Sitzen und Psychoanalyse



Beitrag im Katalog - SITZEN EINE BETRACHTUNG DER BSTUHLTEN GESELLSCHAFT. Eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, herausgegeben von Hajo Eickhoff 1997

 

 

 

Das Sitzen in der Psychoanalyse

 

 

 

 

 

                                                             

Mir geht es gut, seit ich weiß, dass es für mich keine Zukunft

gibt. Ich sitze mein Leben ab, wie eine lebenslängliche

Zuchthausstrafe, und ich bin dabei wunschlos unglücklich!

(Nachwort eines Borderline-Patienten, in:

Rohde-Dachser, C., Das Borderline-Syndrom)1

                                             

                                             

Ein unglücklicher Mensch, von dem manchmal auch gesagt wird, er sei hoffnungslos, weil diese Welt für ihn ein Ort der Unsicherheit und der Verlorenheit ist und möglicherweise auch bleiben wird, sitzt in der Psychoanalyse seinem Analytiker gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Gewöhnlich sitzt allein der Analytiker entweder auf einem Stuhl oder auf einem Sessel, während nach klassischer Regel der Klient auf einer Couch liegt. Innerhalb der klassischen Analyse gibt es aber für bestimmte Menschen Modifikationen dieser klassischen Regel und der Klient wird aufgefordert, sich auf einen Stuhl zu setzen. Dieser besondere Mensch, für den es diese Regelung gibt, lebt oft in der Gefahr, von seelischen Prozessen, denen sein Ich nicht standhalten kann, überschwemmt zu werden. Der Stuhl, der ihm angeboten wird und die sitzende Haltung, die er darauf einnimmt, sollen die Gefahr des Überschwemmtwerdens mindern. Der Stuhl soll Realität betonen. Das Liegen auf der Couch könnte, über die Erinnerung des Körpers an die frühe Kindheit, in der noch nicht gesessen wurde, ein Weg in die Vergangenheit sein, aus der diesem Menschen existentielle Gefahren drohen. Damit er eines Tages die Vergangenheit besser aushalten kann, muss sein Ich in der Realität fester verankert, müssen Ich und Realitätssinn zuerst einmal gestärkt werden. Das Sitzen ist für denjenigen gedacht, der sich nicht fallen lassen soll. Der Liegende in der Analyse erfährt sich als ohnmächtiges Kind, er regrediert und tritt in Kontakt zu seinem Unbewussten und Verdrängten, zu einem frühen vorsprachlichen Erleben. Das Sitzen bedeutet, dass der Klient auf der Ebene des Erwachsenen bleiben und Regression vermieden werden soll. Der gefährdete Mensch soll dem seelischen Funktionieren, das an seinem Anfang war, nicht ausgeliefert werden. Seine Widerstände sind ohnehin sehr schwach und er hat kaum die Fähigkeit, zu verdrängen. Das Überschwemmen mit Gefühlen aus der Vergangenheit würde nur zu einer weiteren Schwächung seines Ich führen, des Ich, das zu fragmentieren droht, wenn die dünne Decke der Realität schwindet.

Die Annahme, das veränderte psychoanalytische setting, in dem beide, Analytiker und Klient sitzen, betone die Aspekte der Realität, die der Klient so nötig hat und die er möglichst nicht aus den Augen verlieren soll, ist nachvollziehbar, wenn man erklären kann, dass eine bestimmte Körperlichkeit unbewusste Prozesse besser in Gang setzt als eine andere: Das Liegen auf der Couch ist eine Möglichkeit, den Körper locker zu halten, denn die Muskeln müssen nicht gegen die Schwerkraft gespannt werden. Die Atmung wird befreit, wenn die Muskeln gelockert sind, und mit ihr werden auch die Gefühle frei. Wenn Atmung und Gefühle gelöst sind, wird Regression gefördert, die eine Abkehr von der augenblicklichen Realität bedeutet, das Eintauchen in die Welt der inneren Bilder und Träume, des Unbewussten, der Vergangenheit. Wenn die Sprache der Bilder gesprochen wird, so wie beim liegenden, noch sprachlosen Säugling, so heißt das, dass eine Erregung direkt zu einem Bild führt. Diese Bildhaftigkeit charakterisiert auch eine Weise zu denken. Unsere Fähigkeiten zu abstrahieren, die wir später erwerben, sind eine andere Weise des seelischen Funktionierens, das die Realität in unseren Köpfen konstituiert, jene Sicherheit, die wir in dieser Welt haben. Aber wir kennen auch die andere Dimension der Existenz, die durch die Risse und Pausen schimmert, aus der Unordnung hervortritt, den Träumen, der Abgewandtheit. Ein kurzes Innehalten im Denken, ein offengelassener Satz, ein Schweigen, ein Tod, eine plötzlich bemerkte Unregelmäßigkeit, ein plötzlicher Impuls aus dem Innern, ein Überschwang der Gefühle, das sind die Momente, in denen das Unbewusste hervortritt und sich des ordnenden Realitätssinnes bemächtigt. Schweifen wir etwa umher, kommen vom Wege ab, stoßen wir auf den Spalt im Beton, oder halten wir nicht an und kommen auf die verschiedensten Weisen ab vom Gerüst unserer Ordnung, geraten wir in den Sog des Unbewussten, des Schwimmens, des unter der Oberfläche der Ordnung verborgenen Ungewissen. Der Impuls, sozusagen eine Tür zum Unbewussten, erzeugt eine magische Realität, anstelle jener, für die man allein verantwortlich ist und die man planen kann. Das Lösen, wie es sich vollzieht, wenn wir liegen, ist ein Loslassen von körperlichen Widerständen, die unsere regressive Welt im Zaume halten. Und weil man sitzend mit angespannten Muskeln den Atem drückt und die Wege zum Unbewussten hemmt, ist das Sitzen auf dem Stuhl ein Angebot, sich der Realität zuzuwenden. Wo also der Sog von Gefühlen zu groß ist, könnte der Stuhl als Anker im Wirklichen und Festen verstanden werden. Sitzen und Stuhl stemmen sich gegen das Impulsive, gegen das Fließen und Abschweifen und fördern die Tätigkeit des Ordnens und des Reflektierens. Anders als der Neurotiker, dessen Regression auf der Couch erwünscht ist und von seinem Ich getragen wird, das in der Lage ist, die Position eines Beobachters einzunehmen, hat der ichschwache Mensch unter Umständen diese Fähigkeit der Selbstbeobachtung verloren. Dann ist er ausgeliefert an die Welt unter der Welt.

 Neben der Gelöstheit des liegenden Körpers als Reiz für das Erscheinen des Unbewussten ist es die Unbewegtheit des liegenden Körpers, die uns zur Produktion von inneren Bildern anregt. Jede Erregung, und Erregung ist Energie, hat zuerst das Ziel, in Bewegung umgesetzt zu werden. Ist das nicht möglich, wird die Erregung in den Kanal der Wahrnehmung geleitet. Innere Bilder, die das System der Wahrnehmung produziert, kennen wir aus unseren Träumen. Möglicherweise wollen Kinder oft nicht zu Bett gehen, weil sie liegend Bewegung durch psychische Aktivitäten ersetzen müssen, durch Träume, Phantasien, Gedanken, vor denen sie Angst haben. Wahrnehmung ist eine Verschiebung, die zweite Wahl der Erregung, deren Ziel Bewegung war.

 Auch im Sitzen wird, wie im Liegen, die Erregung nicht in Bewegung umgewandelt. Aber es gibt einen Unterschied in dem, was das System der Wahrnehmung produziert, je nachdem, ob wir liegen oder sitzen. Ist der Mensch im Liegen entspannt, sind an der Produktion von Wahrnehmung und Denken die Prozesse des Unbewussten stärker beteiligt, als im Sitzen, weil der gelöste Atem sozusagen auch die Antennen unseres Körpers, die sich nach dem Ungeordneten ausstrecken, löst.

Wenn wir sitzen und im Sitzen angespannt sind, wird dagegen das Unbewusste stets weniger stark an unserer Wahrnehmung und an unserem Denken beteiligt sein. Die Verspannung unseres Körpers auf dem Stuhl begünstigt das ordnende Denken. Es ist, als hätte der Mensch eine Haltung gesucht und im Sitzen gefunden, die von den Bildern die Angst nimmt. So ist der Stuhl Gegenstand einer Ordnung, einer festen Fügung, deren Festigkeit sich der Sogwirkung des Unbewussten entgegensetzt. Für den Menschen, der von seinen Emotionen bedroht wird, den Bildern und dem Chaos seiner Vergangenheit, zielt Sitzen in eben dieser Weise auf eine größere Nähe zur Realität ab, eine größere Nähe zu dem Gerüst über dem Chaos.

Wenn man auch das Sitzen nicht als Garantie für einen verbesserten Realitätsbezug und gegen unerwünschte Regressionen missverstehen darf, so steht hinter der Wahl des Stuhles für einen bestimmten Klienten zumindest der Wunsch, ihn zu schützen. Der Analytiker hat beschlossen, den Klienten sich gegenüber auf einem Stuhl sitzen zu lassen, weil der Stuhl eine übersichtliche Realitätsstruktur unterstützt. Er hat das Arrangement, in dem der Klient auf einer Couch liegt und der Analytiker auf einem Sessel sitzt, modifiziert, weil er annimmt, dass dem Sitzenden die Realität näher ist als dem Liegenden, und weil so auch der therapeutische Prozess besser kontrolliert werden kann.

 Unbewegtheit, verbunden mit der Ungelöstheit beim Sitzen auf einem Stuhl, trägt etwas bei zur Art unserer Wahrnehmung und unseres Denkens. Wir bleiben ungestörter von unbewusstem Material bei unseren geistigen Tätigkeiten des Reflektierens und Abstrahierens, wenn wir sitzen. Wenn wir von Realitätsbezug sprechen, gehört dazu aber auch das äußere Bild, das man sich von der Realität machen kann, das Bild auf das man vertraut, weil es sichtbar und fest ist.

 Die Benutzung der Couch in der Psychoanalyse schließt ein, dass der Klient den Analytiker nicht sieht, während das Sitzen des Klienten auf einem Stuhl so arrangiert wird, dass man einander anschaut. Freud saß in der Therapiestunde hinter dem Kopfende der Couch. Er verriet einmal, dass er die Couch, die er aus der Hypnosebehandlung übernommen hatte, deshalb weiter benutzte, weil es ihm darauf ankäme, von seinem Klienten nicht angeschaut zu werden. Er könnte es nicht ertragen, dass man ihn acht Stunden lang anstarrte. Aber auch der Klient, der den Analytiker nicht sehen kann, ist ungestört und stellt Bilder in seinem Innern her, ohne vom Anblick des Analytikers abgelenkt zu werden und die Reaktionen des Analytikers aus dessen Gesicht zu lesen. Nicht schauend, vielleicht mit geschlossenen Augen, ist man gezwungen, zu seinem Gefühl zum Körper und zu seinem Gefühl zur Welt zurückzukommen. Man muss seinen Körper in einer Art kosmischer Balance halten. Aber diese Balance kann nur gelingen, wenn das Ich seiner Grenzen sicher ist und balancieren kann. Wenn ein Mensch sich dieser Grenze nicht sicher sein kann, muss er befürchten, sich in der Kälte des Universums aufzulösen. Manchmal mag gerade das Angeschautwerden für ihn bedrohlich sein, in dem Fall wird man auf dieses Arrangement verzichten. Der Vorteil des Anschauens liegt aber in dem Bild, das der Klient sich von seinem Analytiker macht, dem Bild des anderen, das mit der Realität verbunden werden kann. Der Körper des Anderen spricht für Anwesenheit und Grenze. Die Schwäche des Ich, die bedeutet, dass das Ich eines Menschen eine durchlässige, brüchige Grenze hat, führt ihn zu einem Empfinden von Unwirklichkeit. Um das Gefühl der Wirklichkeit zu erlangen, werden Grenzen gebraucht, Empfindungen für die Grenze des Körpers und für die Struktur der Autonomie. Wenn der Klient zwischen Ich und dem Anderen unterscheidet, ist dies auch eine Unterscheidung zugunsten seiner Autonomie. Wenn mit ihm Abmachungen getroffen werden, die der Situation an diesem Ort und zu dieser Stunde eine übersichtliche Form geben, so kann der Klient, der in der Gefahr ist, mit dem Analytiker zu verschmelzen und seine Grenzen zu verlieren, ihm gegenüber sitzend und schauend wahrnehmen, dass er es ist, der eine Struktur schafft, und er kann seine Wahrnehmung gleichzeitig mit dem Bild seines Gegenübers verknüpfen, was es ihm erleichtert, zwischen sich selbst und dem Analytiker zu unterscheiden. Das Sitzen, das eng mit dem Schauen verbunden ist, soll also über die Bevorzugung des visuellen Sinneskanals helfen, Struktur zu erzeugen und den Klienten zu halten.

Dass Sitzen auch außerhalb dieses Arrangements etwas mit der Schärfung und der Bevorzugung des visuellen Sinnsystems zu tun hat, zeigt sich in der Entwicklung unserer Technik darin, dass eben der Sitzende sich ein System von technischen Gegenübern geschaffen hat für die Situation, in der er sitzt und schaut: Monitore in der Sitzhöhe der Augen. Was der Mensch sich hier vereinfacht in der Entwicklung von Monitoren, scheint tatsächlich die Herstellung von Struktur zu sein. Es fällt uns schwer, unser Leben über das Gehör oder das Gefühl zu strukturieren. Das sitzende Auge ist auch gleichzeitig der festgehaltene Blick und das angehaltene Bild, in dieser Konstellation werden Struktur und Realitätsprinzip geschaffen. Wenn wir sehen und sitzen, sind wir in höchster Empfänglichkeit für Ordnung und Struktur.

Ein Mensch, dessen Ich erst die Fähigkeit erwerben muss, hinauszutreten in die Position des Beobachters und so die Realität zu halten, wird gesetzt, damit er sich nicht löst, weil ein körperliches Lösen auch das Lösen seelischer Prozesse bedeutet, in denen sein Ich unterzugehen droht. Er wird gesetzt damit sich an die Bilder seiner Wahrnehmung nicht ein Sturm von Gefühlen heftet. Er wird gesetzt, damit sein Blick sich nach Außen und nicht nach Innen richtet, damit er seinen Körper kontrolliert. Mit dem Stuhl anstelle der Couch wird ihm ein Weg angeboten, etwas auszublenden und sich dafür an ein kleines Stück Realität zu fixieren. Unbewegtheit, die im Sitzen mit Ungelöstheit verbunden ist, verschließt die Pfade zum Ungewissen. Der Blick fixiert die Realität, und das Sitzen unterstützt den Gebrauch des visuellen Sinneskanals. Im Arrangement des Sitzens in der Analyse ist außerdem die Gesellschaft nahe. Da wir alle sitzen, ist der Sitzende in unserer Mitte, in der Mitte der Erwachsenen. Und so könnte das Angebot an diesen Klienten auch lauten, sitzend einzutreten in das Realitätsprinzip dieser Gesellschaft.

 

Anmerkung

1 Rohde-Dachser, C., Das Borderline-Syndrom, Bern, Stuttgart, Toronto 1989, S. 224

 


 © Doris Paschiller 1997


 

 

 


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