Die Verfolgung des Spaziergängers

Beitrag im Katalog - SITZEN. EINE BETRACHTUNG DER BESTUHLTEN GESELLSCHAFT. Eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, herausgegeben von Hajo Eickhoff, 1997

 

 

 

Verfolgung des Spaziergängers

Das Sitzen im Büro

 

 

Was man beobachten kann, ist die Möglichkeit des Stehens und Gehens an einem Ort, der zum Sitzen bestimmt ist. Die Möglichkeit taucht manchmal als Gedanke und manchmal als Praxis auf. Sie hat einen subversiven Charakter und führt zum Sitzen hin oder zurück, je nachdem ob der Stuhl schon dagewesen ist oder ob er erst noch auftauchen wird. Die Bestimmung des Sitzens im Büro ist ein Teil der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft zu einer Sitzkultur, die ausgeht von einem Geschehen, in dem der abendländische Mensch seine ihm eigene, unverwechselbare spirituelle Haltung entwirft, die Sitzhaltung auf dem Stuhl. Die Bürger verbreiten den Stuhl unter sich als Zeichen ihrer Herrlichkeit, und so gelangt er auch in die mittelalterlichen Kanzleien und Handelskontore der Städte, in denen die Bürger tätig sind. Sobald das geschehen ist, haftet der Bewegung des Menschen, seinem Aufstehen und Umhergehen der Makel des Triebhaften und Unzivilisierten an. Wer es versteht, auf seinem Platz sitzen zu bleiben, hat die Zeichen des Fortschritts erkannt. In der Haltung äußerster Disziplin und Konzentration wird eine neue Gesellschaft entstehen. Dies aber bedarf einer langen Zeit. Es vergehen mehr als hundert Jahre, bis der Mensch im Kontor sitzen bleibt, und es vergehen noch mehrere hundert Jahre, bis er in dieser bestimmten, scheinbar unwiderruflichen Weise sitzt und alle an jenen Orten auftauchenden Alternativen unterbunden hat. Die Sitzordnung entsteht langsam. Hohe Pulte in den Kontoren und Ämtern um 1900 zeugen von Stehmöglichkeiten und einer geringeren Festigkeit des Sitzens. Die Nähe zum Stand und zur Beweglichkeit ist zu erkennen. Zu den hohen Pulten gehören aber hohe Hocker, die in sich schon jenes Moment des Verschwindens der Stehmöglichkeit tragen. Heute ist das Büro ganz eindeutig ein Ort der Stühle und des Sitzens in einer Massenhaftigkeit und Ausdifferenziertheit, die nahelegt, daß dies auch Absicht und Ziel war. Die Absicht geht darauf zurück, einen Schreiber, einen Buchhalter im mittelalterlichen Kontor oder in der höfischen Kanzlei zu halten, ihm das Hinausgehen und Fernbleiben abzugewöhnen, und ihn zu Konzentration und Regelmäßigkeit zu zwingen. In der Ordnung der Reichskanzlei Maximilians I. zu Ende des 15. Jh. heißt es, der Hofrat solle morgens von sieben bis neun und nachmittags von zwölf bis vier „im Rate sein und sitzen“1. Es wird vorgeschrieben, daß jeder, der sich in der Kanzlei aufhält, einen ordentlichen Sitz haben muß, und es wird nicht geduldet, daß jemand einfach vom Konsultationstisch aufsteht und umhergeht. Verordnungen sind ein Zeichen für Komplikationen. Die Notwendigkeit des Dauersitzens in einem Raum stößt zunächst auf wenig Verständnis. Der Körper muß bleiben, wo er nicht bleiben will, und es müssen mehrere Generationen abgewartet werden, bis sich das Bleiben am Ort in Kontoren, Kanzleien und Büros allgemein durchgesetzt hat.2 Zu Beginn dieses Disziplinierungsprozesses ringen zwei Anschauungen miteinander, die mit zwei entgegengesetzten Befindlichkeiten des Körpers in der Welt zusammenhängen. Der sinnliche Körper des spätmittelalterlichen Höflings, der sich im Draußen, in der Natur bewegt und der bewegt ist von Leidenschaft und Hingabe, verteidigt seine Existenz gegenüber dem besänftigten Körper des frühen Bürgers. Der Eingriff in den Körper des Höflings, der seine Arbeit in einer Kanzlei auf einem Platz verrichten soll, ist so tief, daß er als eine existentielle Verletzung empfunden wird. Umgekehrt kann es der Bürger nicht ertragen, daß Besänftigtheit und Disziplin, die er seinem Körper auferlegt hat, auf Ablehnung und Unverständnis stoßen. Der Höfling ist für den kontrollierteren Bürger der chronische Spaziergänger, der kommt und geht, wie es seine Sinne verlangen. Er hat Zeit, schweift aus und will sich nicht festsetzen lassen. Aus der Hofkanzlei Maximilians I. aus dem Jahr 1544 stammt die schriftliche Beschwerde eines Bürgersohns, dem Mitglied einer neuen bürgerlichen Generation, über einen adligen Schreiber, der sich weigert, die von ihm verlangte Zeit- und Körperordnung einzuhalten:

 

und so er in die stub stoltzlich hinein trit, so sprich ich gar guetlich zu ime: Roman, habt ir die copeyen gemacht? antwort er stoltzlich: was copeyen? sag ich, die ich euch gestern morgen geben habe. spricht er: ich habs ains tayls gemacht, aber nit gar. da redt ich, ich het gemaint, ir soltets gesstern gemacht haben. so sint sy noch heut nit gemacht. wen euch als gach wer zu der arbayt als zu dem spaciren gehen, so wern sy lengst gemacht. darauf antwort er mir, ich sol schweygen und ine mit friden lassen und pald von ime geen, oder er wel mit mir umb geen, daz es ine und mich gerewe. darzu sagt ich: ir troet mir doch nit? mit dem sicht er auf sein schwert und spricht, ich sol nur pald von ime geen oder faren das ichs ynnen werde.

 

Die Auseinandersetzung steigert sich schließlich zu einem Kampf auf Leben und Tod. Der bürgerliche Kanzlist schreibt: „da loeff er an die ander tur der camer, und sturmet also von einer tur zu der ander mit plossem schwert, daz wir uns bed unsers lebens nit sicher wessten.“3 Der Wut des Adligen, der nichts weniger als seinen lebendigen Körper verteidigt, setzt der Bürger die Sachlichkeit seines Geistes entgegen. So wie er das Geschehen mit der Schreibfeder nachzeichnet, um eine genaue Wiedergabe bemüht, deutet er auf eine Überlegenheit, die für ihn darin besteht, daß er sich nicht hinreißen läßt im Angesicht der Naturkatastrophe, die er beschreibt. Der adlige Spaziergänger ist ein befremdliches Wesen aus einer fremden Welt. Spazierengehen ist ein Zeichen für Faulheit und Untätigkeit. Das Gehen, das die Lebendigkeit des Körpers zum Ausdruck bringt, ist Müßiggang und verurteilenswert. Aber trotz dieser Abfälligkeit scheinen sich auf der anderen Seite in dieser Auseinandersetzung Spaziergänge und frische Luft als Argumente über lange Zeit zu erhalten und werden immer wieder vorgebracht, wenn jemand darum kämpft, die Kanzlei und den dortigen Sitzplatz verlassen zu dürfen. Es bleibt eine hartnäckige Ahnung von den sinnvollen Bedürfnissen des Körpers bestehen, die auf sein ursprüngliches Recht hinweisen, in Bewegung zu sein. Auch im 18. Jahrhundert ist das Einfordern der Bewegung an frischer Luft weiterhin ein Ärgernis für diejenigen, die sich um die Durchsetzung des Verbleibens auf dem Arbeitsplatz bemühen. Die Entschuldigung, man müsse frische Luft schöpfen, weil man nicht wohl sei und deshalb in der Kanzlei nicht anwesend sein könne, wird von den Hütern der Ordnung nicht umsonst schriftlich festgehalten und beklagt. Die Dokumentation soll die Grundlage für Veränderungen sein. Sie überliefert die andauernde Schwierigkeit, Menschen stundenlang an einen Ort zu zwingen. Diese streben immer wieder danach, sich so wenig als nur möglich am Arbeitsort aufzuhalten, etwa, indem sie Arbeit lieber mit nach Hause nehmen, um sich auf diese Weise dem kontrollierten Dauersitzen zu entziehen.

Auch im Kontor, das entsteht, wenn der Handel zur Geldwirtschaft wird und damit eine bestimmte schriftliche Ordnung erforderlich macht, muß der Kaufmann erst lernen, sich körperlich zu beherrschen. Zunächst führt er seine Bücher in demselben Raum, in dem auch die Waren gelagert und verkauft werden. Der Tisch an dem er sitzt, ist aus dem transportablen Rechenbrett entstanden. Jetzt, da das Brett befestigt ist, muß der Kaufmann oder sein Handlungsgehilfe sich im längeren Sitzen üben. Aber immer noch ist die Buchführung nur eine von mehreren Tätigkeiten an diesem Ort, und sie erfolgt nicht kontinuierlich. So kann auch die Selbstbeherrschung sich in Maßen halten. Das sitzende Arbeiten ist noch eine Ausnahme. Erst als die Kontorarbeiten an Umfang zunehmen und durchdachtere Ordnungen der Buchführung und auch der Räumlichkeiten verlangen, erscheint die sitzende geistige Arbeit langsam in einem neuen Licht. Sie erhält den Vorrang vor der Handarbeit. Und da der lesende und schreibende Mönch und sein asketischer Körper für den Bürger in der frühkapitalistischen Phase das Vorbild für den geistig arbeitenden Menschen ist, erhält das nun vom Verkaufsraum abgetrennte Kontor teilweise das Aussehen eines klösterlichen Studios mit Pulten, Schreibstühlen und Büchergestellen. Der hier arbeitende Kontorist kann sich jetzt nicht mehr mit anderen Dingen beschäftigen, als denen auf seinem Pult. Schon bald wird das Schreiben und Rechnen mit der Forderung verbunden, möglichst nicht von seinem Platz aufzustehen, also Disziplin an seinem Körper auf dem Stuhl zu praktizieren. Man muß und soll sitzenbleiben. Wer sitzenbleibt, zeigt, daß er seine Arbeit tut. Die Ordnungen sind eng an den Körper gebunden, der sich sitzend und bleibend einfügen muß. Aber immer von neuem scheint es Schübe von Auflösung und Chaos zu geben. Und auch der Zweifel an der sitzenden, streng an den Platz gebundenen Arbeit verstummt eigentlich nie, und wenn er mitunter auch nur dazu dient, jungen Frauen die Arbeit im Kontor zu verleiden, weil sie wiederum an den Stuhl gebannt seien, ohne ausreichende Bewegung an frischer Luft und ohne die Möglichkeit, zwischendurch einen Spaziergang zu machen. 4 Der Kampf um den Körper des in einem Kontor oder einer Kanzlei angestellten Bürgers ist eine langwierige und immer wieder von Rückschlägen aufgehaltene Disziplinierungsprozedur. Diese ist auch in der Zeit der Industrialisierung noch nicht abgeschlossen. So stellen Industrieunternehmen im 19. Jahrhundert gern Buchhalter ein, von denen sie annehmen, daß sie die Fähigkeit haben, für Ordnung und Disziplin zu sorgen. In Unternehmen, deren Gründer Techniker und Erfinder sind, die selbst keine kaufmännische Erfahrung haben, übernehmen oft Beamte aus der schon etablierten öffentlichen Bürokratie oder ehemalige Offiziere die Aufgaben der Organisation der Buchhaltung. In der Firma Siemens & Halske, in der die Angestellten an Schreibtischen sitzen, schreibt der Hauptbuchhalter und Vertraute seines Chefs diesem in einem Brief:

 

Im Büro haben wir Deine Disziplin getreulich fortgeführt und noch verschärft. Es ist jetzt schon alles Schreien, lautes Sprechen, Umherlaufen gänzlich verschwunden...niemand spricht laut und tritt fest auf. Es herrscht Totenstille bei uns.5

 

Alle Lebenszeichen sind verstummt, es ist, als sei niemand mehr da. Der raumgreifende, hörbare, gefühlvolle Ausdruck des Körpers ist auf ein Minimum reduziert. In diesem feierlichen Augenblick der Totenstille scheint erreicht zu sein, was beabsichtigt war. Ist die Anwesenheit des Kontorpersonals bei Siemens zunächst eine Sache des Vertrauens, so werden später, zur Beschränkung ausschweifender Bewegung, feste Dienstzeiten eingeführt, bis schließlich auch die lange Mittagspause abgeschafft wird, in der der Kontorist den Arbeitsort für mehrere Stunden verlassen konnte. Die neue Arbeitszeitregelung erlaubt nur noch eine halbstündige Mittagspause, die am Ort abgesessen werden muß. Erfahrene Buchhalter tragen aber nicht nur die bürokratische Disziplin ins Industriekontor. Sie verstehen es auch, dem gezähmten und vergeistigten Körper das Gefühl des Stolzes zu vermitteln. Körperbeherrschung, Bildung und geistige Arbeit adeln den Kontoristen, der unter Umständen nicht einfach auf einem Stuhl sitzt, sondern, wie es der Schriftsteller Gustav Freytag beschreibt, dort thront.6 Und so begehrenswert wie ein Thron ist für den jungen sich bildenden Bürger schließlich auch der Arbeitsplatz:

 

es war ersichtlich, daß ihm ein Schreibpult und ein Lederstuhl in dem kleinen Kontor...nicht fehlen würde. Dieser Stuhl war für ihn das Ziel seiner Sehnsucht, es war für ihn ein Sitz im Paradiese.7

 

Die preußische staatliche Verwaltung, die selbst kaufmännische Schulen gründet, hebt das Selbstverständnis des sich in der Industrieverwaltung etablierenden Angestellten. Eine Zeit lang bedeutet die sitzende Tätigkeit im Kontor einen hohen Prestigegewinn, der jedoch mit der Einführung von Büromaschinen und der Dequalifizierung der Kontorarbeit wieder verlorengeht.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts benutzt man in den Kontoren häufig ein hohes Pult mit Hocker. In dieser Zeit nehmen die Registraturarbeiten erheblich an Umfang zu und man benötigt mehr Platz zur Unterbringung von Papieren. In großen Registraturen bietet sich das Stehen an, weil Ablagearbeit, das Anlegen von Akten und Karteien mit einem häufigeren Hin- und Hergehen verbunden ist. Je umfangreicher die einzelnen Arbeitsbereiche werden, desto mehr schreitet die Entwicklung von Abteilungen voran, die räumlich voneinander separiert werden. In den kleineren Kontoren kennzeichnet das Mobiliar die Trennung der verschiedenen Arbeitsbereiche: Der Registrator sitzt beispielsweise an einem Schreibtisch oder an einem Pult, und das Papier wird in einem hohen Regal geordnet, Buchhalter sitzen an hohen Pulten, Korrespondenten sitzen einander gegenüber am Tisch. In manchen Amtsstuben steht der Schreiber. Aber selten findet man Belege dafür, daß Stühle oder Hocker überhaupt nicht vorhanden sind. In einem Versicherungsunternehmen um 1900 beispielsweise ist das Benutzen von Stühlen zuerst unerwünscht. Nur ältere Angestellte können eine Sondererlaubnis für den Gebrauch eines Stuhls erhalten. Später werden für alle Angestellten Stühle zum Ausruhen angeschafft.

Die Einführung der Schreibmaschine in die Kontore und Schreibstuben am Ende des 19. Jahrhunderts leitet eine noch strengere Festsetzung und Formung der Körper der in den Büros arbeitenden Menschen ein. Die Schreibmaschine wird um 1880 zuerst von der amerikanischen Firma Remington hergestellt. Remington unterweist zu deren Bedienung junge Absolventinnen eines Lehrerinnenseminars im Maschinenschreiben, da sich männliche Schreiber scheinbar nicht finden lassen, und kann so beim Verkauf einer Schreibmaschine auch gleich eine Schreiberin vermitteln. Diese Verkaufsstrategie und die Einrichtung von Schreibmaschinenschulen haben zur Folge, daß nun mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt der Angestellten drängen. Ihr Anteil wächst von 5% im Jahre 1882 auf 27% im Jahre 1925.9 Die bereits arbeitenden weiblichen Angestellten verbessern mit dem Erlernen des Maschinenschreibens ihre berufliche Qualifikation und für die Tochter aus verarmtem, kleinbürgerlichem Hause bietet sich die Chance einer für die Familien nützlichen Erwerbstätigkeit. Später sehen auch Arbeitertöchter in der Arbeit an der Schreibmaschine für sich eine Möglichkeit, der Fabrik zu entkommen. Die auf der Maschine schreibende Frau am unteren Ende der Bürohierarchie ist aber nicht nur auffällig, weil sie weiblich ist, sondern auch, weil sie sich in einer gravitätischen Starre hält, die sich aus der symmetrischen Bearbeitung der Tastatur ergibt. Ihre körperliche Konzentration allein auf die Fingerbewegung, mit der sie an die Maschine gebunden ist, gibt ihrem Sitzen den Anschein des Maschinellen. Sie verkörpert eine durch das Gerät bedingte, ununterbrochene Disziplinierungsprozedur, ein ununterbrochenes Aufrechterhalten dessen, was mit dem Stuhl gemeint ist, eine nicht endende Kontrolle der Bewegung, insbesondere seit sie das Zehnfinger-Schreibsystem beherrscht. Die Maschinenschreiberin ist ein Vorgeschmack, ein Vorgriff auf die Arbeitsplatzgestaltung nach tayloristischem Vorbild, die in den zwanziger Jahren auch im Büro zur Anwendung kommen wird. Mit der Einführung der Schreibmaschine, wie auch der Stenographie, gewinnt das Informationssystem im Büro, das bis dahin ein System der Übersicht und der Kontrolle war, die Dimension der Schnelligkeit hinzu. Schnellschreibwettbewerbe im Maschinenschreiben ermitteln Weltmeisterinnen und werben damit für das Schnellschreiben im Büro. Da die körperlichen Qualen an dieser Maschine, an der das Dauersitzen stattfindet, groß sind, werden in Inseraten kräftige Frauen zum Erlernen des Schreibens an den neuen Maschinen gesucht. Und tatsächlich ist es so, daß Maschinenschreiberinnen nach einigen Jahren derartig an Schmerzen in Fingern, Armen und im Rücken leiden, daß sie ihren Arbeitsplatz wieder aufgeben müssen. Aus diesem Grunde erfordert das Sitzen an der Schreibmaschine eine wesentliche Korrektur des Arbeitsplatzes, die Ausstattung mit einem durchdachten Stuhl, dem Gesundheitsstuhl. Die Ergonomie des Sitzens beginnt mit dem Arbeitsstuhl und an dem Ort, an dem sich das Sitzen mit der Maschine verbindet. Die Dauer der Sitzanstrengung benötigt eine Stütze. Der Gesundheitsstuhl ist der Stuhl zum Stuhl, der hilfreich die Lende beim aufrechten Sitzen stützen soll. Aber die Frau im Büro ist nicht einfach nur eine neue Sitzerscheinung auf einem neuen Stuhl und eine Konkurrenz, die den Lohn drückt. Für den männlichen Büroangestellten ist die Sitzende, die vorher hier nicht gesessen hat, eine Bedrohung der menschlichen Art, wie man einigen gewerkschaftlichen Schriften entnehmen kann. Sie kann dies sein, weil der Mann, der seinen Leib im Sitzen dressiert, die Natur, die er dabei aus sich verbannt, in seiner Vorstellung vom Weiblichen unterbringt. Mit dem Eintritt der Frau ins Büro löst sich diese Projektionsfläche für Natur auf. Die Frau, die sich an die Maschine setzt, erzeugt so eine Stimmung des Untergangs:

 

Arbeiten, die das weibliche Geschlecht blutarm, engbrüstig, kurzsichtig, gliederschwach machen, ... schaden dem Menschengeschlecht körperlich, schaden dem Individuum im Verkehr mit dem männlichen Geschlecht.10

 

Die Handlungsgehilfen geben in ihrer Wut über das Erscheinen der Handlungsgehilfin aber auch unweigerlich zu verstehen, was sie sich selbst verschweigen oder worüber sie, sich scheinbar selbst opfernd, hinwegsetzen: Sitzen ist ungesund.

Schon im 17. Jahrhundert stellt Bernardo Ramazzini Krankheiten sitzender Arbeiter fest, die aus Mangel an Bewegung in freier Luft und durch ungünstige Körperhaltungen entstehen. Aber Bedenken gegen das Dauersitzen auf Stühlen lösen von Anfang an kein folgenreiches Umdenken aus. Wo es darum geht, den Spaziergänger und Umherschweifer im Draußen dauerhaft an seinen Arbeitsort zu binden, empfängt ihn ein haltender Stuhl, der den Triebtäter der Bewegung ordnet und ihm dafür mitunter ein Herrschergefühl verschafft. Das Sitzen auch im Büro des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts festigt sich weiter. Es schließt mehr oder weniger sich zufällig bildende Steh- und Gehorte so schnell als möglich wieder aus. Tauchen ordnende Objekte in der Buchhaltung auf, die das Stehen erfordern, wie das amerikanische Journal, ein Kontenbuch von eineinhalb Metern Breite, an dem der Buchhalter hin und herlaufen muß, wird zweckmäßig nach einer Ordnung für den Sitzplatz gesucht. Die Stühle auf Schienen, die an Karteikästen entlang rollen, sind ein Beispiel für die Abschaffung der Steh- und Gehmöglichkeit bei Registraturarbeiten. Wo das Sitzbüro den Charakter einer Fabrikhalle annimmt, wird das Verbleiben auf dem Stuhl bis zur Tortur getrieben. Es gibt die Fließarbeit im Büro, bei der die Buchungsbelege und Akten auf einem Band von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz fließen. Aufgestanden werden darf nicht. In Schreibmaschinensälen wird, unter hoher Lärmbelästigung und im Akkord, sitzend ein umfangreicher Abschriftenverkehr abgewickelt. Auch hier darf der Sitzplatz nicht verlassen werden. Akkord und Fließband setzen im Massenbüro exemplarisch ein Aufstehverbot durch. Außerhalb der Pausen gibt es nur noch den Grund, zur Toilette zu müssen, um sich vom Sitzplatz erheben zu dürfen. 

So drastisch hier die Eingriffe in den Körper schon sind, der Zwang, der von innen und außen auf den Sitzenden wirkt, kann immer noch verfeinert werden. Ende des 19. Jh. entwickelt Taylor seine Theorie der wissenschaftlichen Betriebsführung. Er führt Zeitstudien an Fabrikarbeitsplätzen durch und ermittelt damit für den Fabrikarbeiter ein System der Bewegungseinsparung am Arbeitsplatz, das dem Arbeiter sowohl Gedanken ersparen als auch seine Bewegung standardisieren soll. Das Ideal ist der maschinenähnlich funktionierende Mensch. Die Psychotechnik des ersten Arbeitspsychologen Gilbreth schafft mit der differenzierteren Methode der Bewegungsstudie ebenfalls ein Mittel zur Durchsetzung einer Bewegungsökonomie am Arbeitsplatz, die schließlich auch das Büro ereilt. Psychotechniker erscheinen vor Ort und beobachten an Büroarbeitsplätzen die Ökonomie der Arbeitsbewegungen der Angestellten und prüfen die Zweckmäßigkeit der Arbeitsmittel und Arbeitsordnungen. Das bekannteste Ergebnis dieser Studien im Büro ist ein Schreibtisch, dessen Auflagefläche in verschiedene Felder eingeteilt ist. Mit diesen Feldern sind die Orte der Arbeitsmaterialien bestimmt und bilden so einen systematischen Greifraum für Sitzende. Die Bewegungsarmut, so der Gedanke, beschränkt das Ermüden und steigert die Leistung. Der Mensch im Büro soll von seinem Stuhl nicht aufstehen müssen, das heißt, möglichst nie, und er soll sich nun, wo er sitzen geblieben ist, schematisch in einem standardisierten Greifraum bewegen. Der Sitzzwang bestimmt den Spielraum der Körperbewegungen. Die sitzende Person muß sich damit abfinden, daß sie nicht aufstehen muß und daß all ihre kreativen Impulse in die Umlaufbahn des Greifraums gelenkt werden.

In Deutschland werden in den zwanziger Jahren Institutionen gegründet, die ebenfalls psychotechnische Studien an Büroarbeitsplätzen durchführen und mit Rationalisierungsmaßnahmen betraut werden. Sie begleiten auch die Einführung von Buchungsmaschinen ins Büro: 1924 entsteht der „Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung“ (REFA) und 1925 der „Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung“ beim „Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit“. Die Abgesandten dieser Institutionen bereiten die Rationalisierung von Ordnungen und Hilfsmitteln, mit denen ein Buchhalter umgeht, wissenschaftlich vor. Karteien, Ziffernlinien, Tabellen, ausgeklügelte Durchschreibevorrichtungen, Rotoren zur Bearbeitung von Karteikarten lenken die Bewegung der Hand, Rohr- und Seilpost verhindern das Aufstehen. Buchungsordnungen schematisieren das Denken. Der gute Buchhalter gibt keinem etwa vorauseilenden Impuls nach, keiner Erregung, die danach trachtet, aus dem Denkschema auszubrechen. Er arbeitet höchst konzentriert. Die im Rahmen dieser Rationalisierung und Arbeitsplatzgestaltung auch geführte Gesundheitsdiskussion, mit den Hinweisen auf die eigentliche Schädlichkeit des Dauersitzens, zieht, man möchte sagen, wie nicht anders zu erwarten, kein Vorziehen der Geh- und Stehorte für die Angestellten nach sich. Auch Psychotechniker und Betriebswissenschaftler nehmen in den zwanziger Jahren im Büro angesichts des hohen Pultes Stehsituationen und Stehmöglichkeiten wahr, besser noch die Möglichkeit eines gesünderen Abwechselns zwischen Sitzen und Stehen an diesen Pulten, und sie ermutigen diesen Wechsel. Im Handwörterbuch der Betriebswirtschaft von 1926 ist die Rede davon, daß es für viele Arbeitstätigkeiten erwünscht sei, teilweise stehend und teilweise sitzend zu arbeiten, um auf diese Weise eine Entlastung der Muskulatur durch den Wechsel zu erreichen.11 Aber die Empfehlungen, zwischen den Positionen Stehen und Sitzen zu wechseln, und auch beim Stehen nicht auf einer Stelle zu bleiben, sondern zu gehen, werden nicht durchgesetzt, denn sie widersprechen dem Ideal der Konzentration und der Ordnung, das mit dem Sitzen angestrebt und erreicht wird. Alle Argumente für die physiologischen Bedürfnisse des Menschen und die Bewegung am Arbeitsplatz scheitern an diesem Ideal der Leistungssteigerung durch sitzende Unbeweglichkeit und Konzentration. Ein Psychotechniker, der die freundliche Ansicht vertritt, daß durch den Wechsel von Stehen und Sitzen „unbewußt“ auch ein Wechsel zwischen geistiger und körperlicher Arbeit stattfinde, verrät zugleich, daß er sich mit der Belobigung einer solchen Möglichkeit im Widerspruch zu eben dem Bemühen um die Konzentration auf die geistige Tätigkeit im Büro befindet. Das Lob des Wechsels bleibt zwar erhalten, es taucht auch in den fünfziger Jahren der Arbeit der REFA auf, aber es wird kein, etwa durch die Psychotechnik inspiriertes, aktivierendes Stehpult ins Büro eingeführt. Ganz im Gegenteil wird letztendlich die in Verruf geratene schräge Schreibfläche, das Pult, an der der Armmuskel zu sehr belastet würde, durch flache greifräumlich gestaltete Schreibtische ersetzt, auf denen das Schreiben mit der Hand nicht mehr den Arm-, sondern nur noch den Fingermuskel beanspruchen soll. Und auch der Fingermuskel steht noch zur Disposition. Das hohe Pult verschwindet. An den Schreibtischen ist das Stehen ausgeschlossen, und jede falsche, das heißt, nicht zum Arbeitsvollzug gehörende Bewegung kann sofort erkannt werden.

 Wie eine Schablone legt sich die nun wissenschaftlich gestützte Raum- und Körperordnung über den Ort der sitzenden Arbeit, um die Bewegung anzuhalten. Mit dem Psychotechniker, der sich nicht nur für Ökonomie und Physiologie zuständig fühlt, erscheint auch die Seele im Büro. Denn es geht darum, das Lustvolle der noch enger gewordenen Ordnung im Büro zu ermitteln: Konzentration ist Arbeitsersparnis durch Verdichtung geistiger Arbeit. Ja, die eigentliche Arbeit ist die Konzentration. Und ein Buchhalter oder ein Mensch, der dazu geeignet ist, Buchhalter zu sein, muß die Fähigkeit der Konzentrationslust entwickeln. Dies kann er durch Übersicht und Klarheit und im bewegungslosen Sitzen erreichen. Ein Schreiber, der durchaus in eigener Regie eine lustvolle Körpersprache für seine sitzende Tätigkeit entwickelt hat und der, bevor er zu schreiben beginnt, schwungvoll die Hand in großem Bogen zu Papier führt, wird ermahnt, diese überflüssige Bewegung zu unterlassen. Sie führe, heißt es, zum Schreibkrampf. Das Relikt einer Bewegungslust wird dem Sitzenden angekreidet. Das schlechte Gewissen, das sich aus der umfassenden Festsetzung des Büropersonals ergibt, konzentriert sich auf schlechte und falsche Bewegungen und schließlich auf falsches Sitzen und falsche Stühle. Es kann nie eine eindeutige Befürwortung zum Sitzen bei der Arbeit, zum Dauersitzen geben, weil die gesundheitsschädigenden Folgen von Anfang an deutlich sind. Der Stuhl ist immer nur ein Instrument der Disziplinierung. Auch die Argumente der Bequemlichkeit und des Ausruhens im Sitzen taugen nie als Argument für das Dauersitzen. Und so bearbeiten der frühe Betriebswissenschaftler und der heutige Ergonom nicht das Sitzen, sondern das falsche Sitzen. Aus dem Spaziergänger im Kontor, ist der Falschsitzer im Büro geworden.

 Das falsche Sitzen beschäftigt uns immer noch. Sitztorturen, das darf man sagen, stehen in einem endgültig schlechten Licht. Was geschieht nun, wenn wir jetzt aufstehen und uns mit unserem Bürocomputer an ein Stehpult stellen, in Gedanken im Raum auf und ab gehen, vor den Bildschirm treten, schreiben und abrufen, kalkulieren und registrieren und wieder gehen? Die Entwicklung von Gesundheitsstühlen für das Büro beginnt mit dem Kreuzlehnstuhl, der die Lende stützen soll und führt zu den heutigen dynamischen Bürostühlen, die den Menschen im Sitzen bewegen und die so die gegeißelte Bewegung aus dem Instrument der Geißelung selbst wieder zurückzubringen versuchen. In diesem Prozeß werden wir immer wieder über die Schädlichkeit des Dauersitzens für unsere Gesundheit informiert. Der bewegende Gesundheitsstuhl kann nicht umhin, uns auch wieder auf die Idee des Stehens und Spazierengehens zu bringen.




 


 © Doris Paschiller

 

 

 


Anmerkungen

 

1 Zitiert nach: Fritz, Hans-Joachim, Menschen in Büroarbeitsräumen, München 1982, S.49

2 Vgl. Fritz, a.a.O., S. 50

3 Schubert, F.H., Blasius Hölzel und die soziale Situation in der Hofkammer Maximilian I., in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 47. Bd., Wiesbaden 1960, zitiert nach Fritz, a.a.O., S.47

4Vgl. Schwabe, Jenny, Kontoristin, Leipzig 1899, S.5, zitiert nach Fritz, a.a.O., S.86

5Vgl. Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft, Stuttgart 1969, S.88 

6 Freytag, Gustav, Soll und Haben, München 1977, S.78

7 Freytag, a.a.O.

8 Vgl. Lorentz, Ellen, Aufbruch oder Rückschritt, Bielefeld 1988 , S. 345

9Schriften des Verbandes Deutscher Handlungsgehilfen zu Leipzig (VDH), zitiert nach Lorentz, a.a.O., S. 128

10 Vgl. Nicklisch, H., Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Stuttgart 1926, S. 259

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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