Die Jahre einer Dramatischen Entwicklung 86 87 88 89

DIE JAHRE EINER DRAMATISCHEN Entwicklung



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Erzählung





Kapitel I




6 Jahre sind vergangen seit wir das Land verlassen haben.



Und wir wollen nicht glauben was wir hier anstarren. Denn dieses geschlossene Land das wir verlassen haben scheint plötzlich geöffnet worden zu sein.


 

Auf dem Wege zu meiner Schwester durch enge sich in Blech spiegelnde Straßen denke ich an das große dunkle Haus mit den verborgenen Zimmern aus meinem Traum. Was für ein Haus mag das gewesen sein?

Erinnerst du dich an das Waldgrundstück in W. und an den Bungalow? Sicher erinnerst du dich, wenn auch mühsam und ein wenig abweisend.

Wie lang die Zeit damals schien wenn wir morgens im Erwachen den Regen hörten, der zuerst die Birkenblätter berührte und dann das Dach und die Spanplatten der Behausung einhüllte und die Fenster mit dünnen Strichen benetzte: (eine Erinnerung, die zu einer Erinnerung an einen Tarkowski Film führt). Wir würden an diesem Tag nicht hinausgehen und diese enge Behausung nicht verlassen und würden uns die Zeit mit Kartenspielen vertreiben. Wir erwachten auf unseren Campingliegen in der Mitte eines einzigen Raumes. Die Betten unserer Eltern, metallene Sprungfederrahmen auf metallenen Füßen, standen in einem Winkel zueinander in der Ecke und Irma und Georg, Kopf an Kopf, flüsterten miteinander. Wir blickten zu den hohen Stämmen der Fichten hinauf, deren Wipfel sich wie riesige schwarze Federn am Himmel hin und her bewegten.



Für die Wohnung meiner Schwester, zu der ich hinauf gestiegen bin, vorbei an Türen mit bunten Glasscheiben, besitze ich einen Schlüssel. Ich bin nicht angemeldet, aber als ich eintrete ist sie nicht überrascht. Sie liegt im Bett ihrer Tochter Linda und scheint allein zu sein. Sie liegt auf alten Matratzen auf gelblichem Leinen und ein Stück des alten roten Inletts ragt aus dem Überzug heraus. Um meine Schwester herum stehen Tabletts mit den Resten der verschiedenen Mahlzeiten: der Teller mit den Marmeladenkrümeln und den Eierschalen, der Teller mit der angetrockneten Tomatensoße, die Tassen mit Kaffeegrund und Teeresten.

Ich habe an unseren Garten in W. gedacht, sage ich.

Ich habe an die Türen unserer Wohnung in Pankow gedacht, sagt Ruth, an die vergilbten Türen mit den Messingklinken.

Es klingelt und meine Schwester läuft ans Telefon, das sich in ihrem Arbeitszimmer befindet.

Sie habe sich von Sörga getrennt ruft sie, aber es müsse Sörga sein, der jetzt anrufe, er rufe sie immer um diese Abendstunde an. Sie nimmt den Hörer auf. Ich setze mich in den Sessel der am Ofen steht. Die Wände des Zimmers sind weiß.

Ruth blickt mit dem Telefonhörer in der Hand aus dem Fenster in die Dunkelheit, sie beschreibt Sörger die tiefschwarzen fast blattlosen Bäume und die sich nähernden und die Nacht durchsuchenden Scheinwerfer der Autos. Sie öffnet die Balkontür und zündet sich eine Zigarette an und an der gegenüberliegenden Giebelwand erscheint ihr überdimensionaler Schatten. Sie betrachtet das Leuchten des Waschsalons, der um diese Stunde immer noch geöffnet ist. Man kann das Rotieren der Trommeln sehen und einen Mann, der auf einer der Sitzbänke liegt.



Als Linda nach Hause kommt mit einer Bibel unter dem Arm denke ich, wie kann alles so vollkommen anders werden?

Sie lächelt zur Tür herein, sieht ihre Mutter und scheint Bescheid zu wissen. Sie beschwert sich über den Zustand ihres Zimmers und ich helfe ihr das Geschirr in die Küche zu räumen. Ich frage Linda ob es schön war und kann, das heißt ich will meistens nicht begreifen, warum sie plötzlich religiös geworden ist. Wir sind es schon lange nicht mehr.

War es schön in der Bibelstunde, frage ich und sie nickt. Und Ich denke etwas von gut aufgehoben und groß geworden und selbstständig.

Und wie lang dein Haar geworden ist, sage ich.

Mir geht es in letzter Zeit so dass ich heulen muss wenn ich Nachrichten höre, sagt Linda. Passiert dir das auch?

Ich erblicke ihren seltsamen Gesichtsausdruck in den etwas Ungeahntes gefallen ist. Kann sie denken, dass sie damit allein hier ist mit all den Fluchtwellen aus der DDR heraus über Ungarn, oder über die Botschaften der anderen sozialistischen Länder mit all den Rücktritten und Auflösungserscheinungen?

Mir geht es ebenso, sage ich. In der U-Bahn schlage ich schon nicht mehr die Zeitung auf, weil ich denke, dass ich mich nicht beherrschen kann, aber ich dachte du wärest etwas freier davon, du warst erst 12 als wir weggingen, aber natürlich sind die ersten 12 Jahre des Lebens - warum denke ich, dass sie dich nicht so betroffen haben könnten. Damals als du noch klein warst (träumten wir nicht vom Westen immer wieder?)

Ich kann mir nicht vorstellen, sagt Linda, dass dort Demonstration stattfinden auf dem Alex, in diesen Straßen, ich kann es mir einfach nicht vorstellen.

Aber Linda möchte nicht hinfahren, obwohl sie könnte, sie ist nicht ausgesperrt worden wie wir, die keine Einreiseerlaubnis mehr haben. Sie hebt die Schultern. Sie will nicht zu nah betroffen werden.

Ich würde es schon gerne erleben, denke ich.

Aber es ist doch toll, sagt Linda und lächelt.

Und auch uns erscheint es nötig zu lächeln, den Versuch zu machen optimistisch zu sein und uns nicht mit der momentanen Verstörtheit zufrieden zu geben.  

Sie habe gestern auf der Straße Das Geisterhaus von Isabel Allende gefunden, sagt meine Schwester ins Telefon und habe das deckblattlose Buch mit nach Hause genommen und repariert.

Und wie geht es deiner Mutter, fragt Ruth Sörga, hast du Nachricht von ihr?

Sörgas Mutter habe Angst, sagt sie, als sie den Hörer aufgelegt hat und es falle ihr ungeheuer schwer über die Grenze zu kommen und dann wieder zurückzukehren, obwohl sie immer unbedingt zurückkehren wolle, sie habe Angst, auf die Straße zu gehen, es sei eine Angst vor Krieg.

Wir wissen auch nichts von Roxanne, sagt Ruth, wir stehen einfach da vielleicht ist sie vollkommen allein.


Leonore, denke ich,

als würde in dieser Zeit niemand einfach so sterben dürfen wie unsere Freundin Leonore vor 2 Monaten, ohne den Sturz des Staatsratsvorsitzenden noch erlebt zu haben. Es muss entsetzlich schwer für sie gewesen sein Roxanne, ihre einzige Tochter zurück zu lassen, wie schwer muss es überhaupt sein zu sterben. In diesem Zimmer tut sich ein Abgrund auf. 

Zu Leonores Beerdigung habe ich Roxanne das letzte Mal gesehen, sagt Linda. Wir sind aufs Land gefahren nach N. und es war schön, aber Leonore hat in ihrem Haus gefehlt. Dann habe Roxanne eine Karte aus Ungarn geschickt. Ob sie herkommen wolle, habe  sich Linda gefragt, ob sie herkommen sollte. Wir wussten es nicht. Sie würde doch all die Bilder von Leonore und all das damit zusammenhängende nicht zurücklassen können. Aber zwangsläufig hätte sie wohl, dazu noch in Ungarn, über das Fliehen nachdenken und sich mit solchen Gedanken herumplagen müssen. Ruth bringt eine angebrochene Flasche Wein aus der Küche, Gläser und Saft für Linda.

Linda hat aus ihrer Mappe eine Tageszeitung geholt und wirft sie uns auf den Tisch, trinkt ihren Saft, küsst unsere Wangen und geht in ihr Zimmer. Die Tageszeitung bleibt unbeachtet liegen, wir kennen die Nachrichten schon.

Du scheinst nicht verwundet zu sein wegen Sörga, frage ich meine Schwester.

Wir trinken Wein. Die Wunde sei eher verschwunden, geschlossen vielleicht, sagt Ruth, sie empfinde keinen Schmerz, das Ausbleiben des Schmerzes habe sie eine Zeit lang geängstigt und die Möglichkeit seine Stimme zu vergessen, sein Gesicht seine Bewegung.

Es ist kalt geworden und Ruth legt in Lindas Zimmer Kohlen nach.

Wir beide decken uns warm zu, sagt sie, es ist dumm für dich dass du hier frieren musst während du zu Hause eine Zentralheizung hast.

Wir liegen in dem engen Schlafzimmer meiner Schwester auf Matratzen einander gegenüber und lesen, schauen von unseren Texten auf. Und Ich denke daran, dass ich atme, ein kurzer dürftiger Atem. Wir atmen sparsam von den Nebelschwaden im Zimmer und von dem Duft der kühlen klaren Fensterscheiben, vom Staub des Teppichs und der dicken Federbetten. Im Zimmer verstreut liegen bunte Stoffreste, als hätte meine Schwester genäht. Nur einmal kurz nach unserer Ausreise aus der DDR, auf die wir 2 Jahre gewartet hatten, (Ruth, glücklicherweise bis zuletzt an einem Hörspiel für den Kinderfunk arbeitend), hatten wir die Möglichkeit, anlässlich der Beerdigung unseres Vaters, unsere Mutter war schon vor langer Zeit gestorben, uns ein paar Tage lang in Ost-Berlin aufzuhalten:



Es ist das erste und wir denken, vielleicht auch das letzte Mal, dass wir die Grenze nach Ost-Berlin überschreiten. Der Grenzbahnhof Friedrichstraße ist in schwüles Graugrün getaucht. Als wir nach jenem langen hässlichen schmutzigen Gang die Abfertigungsboxen erreichen und nach einer Warteminute, hinter einer Rentnerin nacheinander unsere Ausweise durch den Glasschlitz schieben, schlägt mir das Herz im Halse, aus Angst wahrscheinlich, ich könnte abgewiesen werden.

Jede von uns trägt einen Strauß Anemonen und Tulpen in der Hand und es ist Winter.

Diese absurde Situation, die Mauer, durch die wir nach Ostberlin gelangen, erzeugt einen unangenehmen Gemütszustand, aus der Kenntnis des Landes heraus, der umfassende Kenntnis dieses Drucks von Kindesbeinen an. Als wir die Ausweise zurückerhalten und den Zoll passiert haben finden wir nicht zugleich den richtigen Weg. Es sind verschiedene Möglichkeiten offen und ein in der Nähe stehender Beamter grinst nur, ohne uns behilflich zu sein. Erst als wir auf eine verschlossene Eisentür gestoßen sind, zeigt er uns die Richtung in die wir gehen müssen. Wir öffnen jene Eisentür und stehen dann abrupt in der überfüllten Bahnhofshalle, die wir schnell durchqueren und stehen dann ebenso abrupt auf der Straße.

Es ist der bekannte Kohlengeruch, sagt Ruth.

Es kommt überhaupt all das Bekannte mit einem mal auf uns zu und rastet in unserem Körper ein. Auch die Halle des Hotels Unter den Linden und der davor stehende röhrenförmige Zeitungskiosk und auch das hohe weiße Handelszentrum, das wir von der anderen Seite des Öfteren über die Mauer ragen sehen, besonders von der Cafeteria der Staatsbibliothek aus, in der wir oft sitzen und schreiben, finden sofort wieder ihren bekannten seelischen Niederschlag und ebenso die whiskyfarbenen Hotelrestaurants mit ihren die Schritte verschluckenden Teppichböden und den abweisenden Kellnern. Und auch das Grau des Pflasters , obwohl dasselbe wie auf der anderen Seite, hat hier eine ganz besondere Ausstrahlung.

Georgs Beerdigung findet in einem Außenbezirk statt, zu dem wir mit einem Taxi fahren, auf das wir glücklicherweise nicht lange warten müssen. Ich wusste, dass zu dieser Zeit vormittags und in der Woche die Chancen ein Taxi zu bekommen nicht schlecht stünden. Wir haben die Trauerrede bei uns, die wir dem Trauerredner geben werden.

Er wolle kein christliches Begräbnis, hatte Georg mehrmals verkündet.

Es wird schnell vorübergehen. Die wenigen Trauergäste, ein paar Frauen verschiedenen Alters, die anwesend sind, schauen uns misstrauisch oder sogar feindselig (?) an.  Sie hatten alle in den letzten Jahren, Georg ist sehr alt geworden, zu irgendeiner Zeit, unseren Vater versorgt und jetzt den Haushalt aufgelöst und ihn beerbt. Es muss noch eine relativ beträchtliche Summe gewesen sein. Aber wir mussten uns davon nicht sonderlich betroffen fühlen, denn Georg konnten wir uns sagen, hatte uns ebenfalls immer gut versorgt. Nur als sie uns eine Tüte mit dem tatsächlich allerdürftigsten Nachlass übergeben, sie hatten uns außer Papier nicht einen einzigen kleinen Gegenstand zum Andenken überlassen und die Wohnung war bereits wieder vermietet worden, wird mir übel vor so viel Gemeinheit. Ruth  wirft Lindas Stein aus Sardinien ins Grab, was sie versprochen hatte und als wir den Friedhof verlassen, haben wir immer noch das Gefühl von bösen Blicken verfolgt zu werden.

Sie verstehen es gut, uns in unseren Schuldgefühlen zu bestärken, obwohl sie diese Begrifflichkeit nicht kennen, denke ich.

Wir sitzen in der Straßenbahn und fahren zurück nach Pankow. Die Häuser am Straßenrand haben einen dörflichen Charakter. Die Brücke die über die Bahngleise führt ist uns wohlvertraut. Hier in der Nähe befinden sich wild überwucherte kohlenbestäubte Pfade, die immer wieder auf diese breite Verkehrsstraße führen. Wir haben uns vorgenommen das Mietshaus aufzusuchen, in dem wir als Kinder wohnten.

Was wollen wir übrigens sehen fragt meine Schwester, was denn passiert sein solle? Im Kindergarten habe es angebrannte Milch gegeben, sagt sie und sie seien dazu gezwungen worden sie mit Zucker zu trinken. An einer langen Tafel sei jedes einzelne Kind dazu gezwungen worden und um die Mittagszeit seien sie ebenso zum Schlafen gezwungen worden, zum unbedingten schließen der Augen und zur Bewegungslosigkeit. Es habe Überwindung gekostet sich von einer Seite auf die andere zu drehen. Es seien die Bewegungslosigkeit und die geschlossenen Augen überwacht worden. Sie habe eine dunkle lederne Brottasche gehabt und im Sommer auf einer Terrasse habe eine der Kindergärtnerinnen erlaubt, ihr das lange schwarze Haare zu kämmen.

Wir steigen aus der Straßenbahn aus. Ruth will sich nichts anmerken lassen. Sie finde den Weg zu unserem Haus ja im Schlaf und es scheine sich nichts verändert zu haben, die Straße mit ihrem rötlichen Schimmer, sie scheine so ebenmäßig geblieben. Wir könnten hier wieder Rollschuh laufen. Auch die Sträucher vor unserem Balkon, unter denen wir uns früher verbargen, scheinen unverändert geblieben. Oder ist es uns einfach nicht möglich deutlich zu sehen? Wir gehen in das Haus nicht hinein, wir müssten um hineinzukommen irgendwo klingeln. Wäre ich allein vielleicht würde ich klingeln. Aber Ruth hält mich davor zurück. Sie ist wütend weil ich hinauf auf den Boden will, auf den unsere Mutter abends die nasse Wäsche hängte. Der große Korb voll nasser Wäsche stand auf den nackten staubigen Dielen. Es gab kein Licht dort oben und wir leuchteten ihr mit Taschenlampen. Eine trug einen Wäscheklammerbeutel, die andere half ihr beim Glattziehen der Laken und Bettbezüge. Wenn wir hinter der schweren Eisentür hervor wieder ins Treppenhaus kamen, fühlten wir uns leicht und befreit.

Aber natürlich sei es nicht nötig noch einmal nachzuschauen, gebe ich meiner Schwester zu, während sie über diese Worte nun berührt ist und ihr eines Augenlid zu zucken anfängt.

Wir finden mit dem Ort ja die Zeit nicht wieder und deshalb wirkt alles so unter Glas. Was hier gewesen ist können wir am Ort nicht mehr erkennen. Und auch der Zeitungsladen unter dem Torbogen, der bis zu einem bestimmten Alter die Grenze unserer Bewegungsfreiheit war, scheint hinter einer Nebelwand verborgen.

Auf dem Sportplatz zu beiden Seiten des Schotterweges stehen die Fahnenmasten. Stundenlang habe sie am oberen Ende des Sportplatzes trainiert , sei die Stufen hinauf und herunter gelaufen bis an den Rand körperlicher Möglichkeiten, mit hochrotem Gesicht, bis zum Weißwerden der Lippen. Jahrelang sei sie so gerannt wo immer sie sich trainierend aufgehalten habe, durch Wälder und am Strand der Ostsee entlang.


Dass wir vor der Schule den Sportplatz besuchen ist ihre Intuition, hier habe sie sich vollkommen identifizieren können, mit Hilfe des Leistungssportes, den sie in dieser Schulzeit betrieben habe, habe sie eine Identifikationsmöglichkeit gefunden mit diesem Land. Und dieses Gebiet war Irma und Georg nicht zugänglich, die immer, vielleicht ohne selbst etwas davon zu ahnen, bestrebt waren zu starke Identifikationen mit diesem Land zu unterbinden.

Der Schulhof ist abgeschlossen und leer. Auch hier blicken wir durch die Gitterstäbe des Schultores die weißen Fahnenmasten an. Es sind schmerzerzeugende Zeichen. Wir sahen sie sicher am ersten Schultag zum ersten Mal aufragen inmitten des Hofes, inmitten der schweren Türen mit den Rundbögen, inmitten der schweren, schwer zu öffnen Fenster, jede an ihrem ersten Schultag, 3 hölzerne Masten weiß und hoch einer für die blaue einer für die rote und einer für die schwarz rot gelbe Fahne. Sie ragten aus dem sandigen Boden über die Linden hinweg, die jetzt hoch gewachsen sind.

An diesem ersten Schultag schon müssen wir eine leichte Verschiebung der Perspektive wahrgenommen haben. Auch das Flirten unseres Vaters mit der Lehrerin hat uns nicht überzeugen können von der angeblichen Normalität all dieser Vorgänge. Die besondere Beschaffenheit von Georg, der, wie uns später auffiel immer noch sagte er gehe ins Geschäft wenn er zur Arbeit ins Büro ging, denn von Geschäft konnte doch keine Rede mehr sein, musste uns dieses Gefühl der Fremdheit eingegeben haben.

Er habe sie zeitlebens -mein Sohn- genannt, sagt meine Schwester, ob mir das aufgefallen sei?

Wir laufen zurück in Richtung S-Bahnhof, vorbei an den Bäckereien und am Gericht. An dieser Haltestelle vor einer der Bäckereien standen wir und warteten auf den Bus, als wir schon umgezogen waren und hier noch zur Schule gingen, früher, als die Fahrkarten noch mit der Hand abgeknipst wurden und früher als in den Bussen und Bahnen noch Schaffner mit fuhren und das Fahrgeld kassierten und das Kleingeld diesem wunderbaren metallenen Behälter entnahmen und diesen Gummi auf dem Daumen trugen, früher als die Busse noch ohne Türen waren und einmal in der Kurve zu unserer Straße ein Mann und eine Frau aus einem überfüllten Bus herausgefallen waren und in Decken gehüllt auf dem Bürgersteig gelegen hatten.

Wir kommen an der Eisenwarenhandlung vorbei mit all den Gartengeräten und Werkzeugen im Schaufenster, vor dem wir immer fasziniert gestanden hatten und an jenem Park hinter der Augenklinik, in der unsere Mutter einmal am Augenlid operiert worden war und wo eine junge Frau ermordet worden sein sollte. Die Schauergeschichten unserer Kindheit, wie auch die von den Kindern, die im Tierpark von den Eisbären gefressen worden wären, (ihr dürft euch nicht über die Brüstung lehnen) kommen mir in den Sinn.

Wir hätten noch das Schreibwarengeschäft und den Hals Nasen Ohren Arzt aufsuchen sollen und in den Häusern nachschauen sollen ob nicht eine der Familien der alten Mitschülerinnen dort noch wohnte, sagt meine Schwester. Wir stehen bereits am Blumenladen in der Bahnhofshalle in dem zu unseren Geburtstagen die Herbstblumen, in weißes Seidenpapier gewickelt, gekauft wurden.

Die Mittagssonne liegt auf dem hellen Ort unseres Kindheit. auf den wir einen wie mir scheint endgültigen Abschiedsblick werfen. Ich stelle mir jedenfalls nicht vor noch einmal hierher zu kommen. Auf dem Bahnsteig mit Blick auf die Straße auf der ein Karussell steht, gegenüber dem Gesundheitsamt, in dem wir bei Abwesenheit von der Schule Impfungen nachholen lassen mussten, stehen wir unruhig und schweigend und mit den Füßen wippend und warten. Als der Zug kommt steigen wir ein und setzen uns ans Fenster. Wir kennen die Strecke gut, wir fuhren sie täglich zur EOS.

Und der Bezirk Prenzlauer Berg ist uns näher als der, den wir eben verlassen haben und es ist hier etwas nicht Vergangenes sondern etwas Abgebrochenes zurückgeblieben. Der Bezirk erscheint in den Brandmauern seiner zerbröckelnden Häuser. Auf der Böschung stehen verwelkte Goldregenbüsche und plötzlich taucht die Mauer auf. Am S-Bahnhof Schönhauser Allee steigen wir aus. Im dröhnenden Straßenverkehr freue ich mich auf unsere Freundin, die wir jetzt endlich sehen können.



Leonore, die uns zum späten Frühstück erwartet, hat den Tisch gedeckt, Eier gekocht und setzt Teewasser auf. Ihr Raum erscheint mir wie immer improvisiert und heute anlässlich eines Frühstücks, stehen verschiedene alte Sessel um einen niedrigen runden Tisch und endlich sehen wir all die Bilder wieder.

Jetzt weiß ich genau warum ich dagegen war, sich in der Stadt zu treffen. Was sollen wir in den Straßen, in deiner Wohnung ist es viel schöner, sagt Ruth.

In der Umarmung finde ich Leonores Geruch wieder. Sie fragt ob es schlimm gewesen sei, sie fragt nach der Anzahl der Trauergäste. Die Anzahl der Trauergäste scheint ihr offensichtlich zu niedrig. Ich atme den Geruch der Farbe ein. Leonore wickelt ein auf dem Tisch liegendes Paket Käse aus. Wir setzen uns an den Tisch und warten bis der Tee fertig ist, wir essen. Gestern um Mitternacht haben Ruth und Leonore telefonisch verabredet, zusammen zu frühstücken und den Nachmittag zu verbringen. Ruth will erst am Abend Sörga treffen, bei dem sie übernachten wird. Leonore gießt Tee in die Tassen, eine vertraute Geste, die alle Gefühle auf sich zieht. Leonore gießt Tee in die Tassen! Wie haben wir dieses gemeinsame Tee trinken vermisst! Aber eine gewisse Nervosität scheint in ihren Fingern zu stecken, als seien die Dinge und das Essen auf dem Tisch ihr fremd, vielleicht, weil sie denkt dass sie für uns fremd geworden sind. Sie erinnert uns daran, dass sie uns einmal ein Brot geschickt hat, damit wir den Geschmack unseres Brotes nicht vergessen.

Ruth sagt: zu Anfang habe sie nichts geschmeckt. Im Westen sei ihr der Geschmackssinn vorübergehend abhandengekommen. Die Konsistenz des Brotes sei ihrer Zunge (ahnungslos kauften wir anfangs Brot mit Konservierungsstoffen) seltsam erschienen.

Manchmal habe sie Hunger auf einen chemischen Pudding, sagt Leonore, Heißhunger sogar, aber sobald sie die Idee des chemischen Puddings durchschaut habe, sei es bereits genug.

Ich erinnere mich an einen Abend, an dem Leonore von einer endlich erreichten Studienreise aus Westberlin zurückgekehrt war. Ein flacher rechteckiger Tisch stand damals vor dem Bett, mehr zum Fenster hin, nicht wie heute vor dem Bücherregal. Es waren zwei, mir nur flüchtig bekannte Malerinnen anwesend und Rolf war mit Ruth gekommen. Leonore berichtete, dass die Leute, die sie in West-Berlin kennengelernt hatte, alle darüber erstaunt gewesen wären, dass sie wieder habe zurückgehen wollen, da sie nun schon herausgekommen sei und nicht wisse, ob sich diese Chance je wieder bieten würde. Und Ich erinnere mich, mehrere Künstler erhielten zu dieser Zeit dieses Reiseprivileg, wie sicher es für Leonore trotz allem war, zurückzukommen nicht nur Roxannes wegen.

Die dächten das hier könne man ohne weiteres alles sofort wegschmeißen, hatte Leonore gesagt. Danach sei sie allerdings, was sie später oft beschrieb, wochenlang deprimiert und arbeitsunfähig gewesen.

Ich hatte zu dieser Zeit noch nichts davon geahnt, dass ich selbst eines Tages in den Westen gehen würde. Ich und Ruth und Rolf wir alle hatten noch nichts davon im Sinn gehabt.



Unsere Träume sind zerstäubt. Die Löcher, die sie zurückließen, müssen zwischen uns noch vorhanden sein. Und Leonore hat hin und wieder einen Pass, zumindest erhält sie ein Visum, wie es scheint zu dem Geburtstag ihrer Tante in Charlottenburg. Inzwischen dürfen fast alle, ohne Kinder, zu bestimmten Geburtstagen ihrer Verwandten in den Westen reisen. Als wir Leonore auf diese Weise das erste Mal wiedersahen, wir also sie an diesem Ort sahen und sie uns an diesem Ort, begegneten wir einander in Fahrigkeit. Wir hatten keinen gemeinsamen Blick auf die Zukunft mehr. Wir verbrachten die Zeit damit, unsere Modalitäten vorzuführen. Die Zeit stand still. Es war etwas Künstliches, als würde alles im Augenblick erfunden werden. Wir lockten Leonore in eine der zahlreichen Tavernen und auf die Einkaufsstraßen und berührten die Hosen und Jacken die an den Kleiderständern auf den Trottoiren standen, als würden wir mit unseren Händen an einem Lattenzaun entlang fahren und fast kauften wir einen löchrigen Pullover der 5 Mark kosten sollte.

Weißt du das noch? Wir blieben vor dem italienischen Geschirr stehen und sagten mit einer für uns unerwarteten Betroffenheit schön wirklich schön, weißt du das noch, frage ich Leonore. Und warum das Weinen vor dem Warenangebot? Weil  wir die ganze Zeit von Kindheit an mit der Westschokolade und dann mit den ersehnten und gewünschten Dingen verbunden waren durch Werbung. Und dann waren sie mit dieser beklemmenden und schrillen Selbstverständlichkeit vorhanden. Wir stehen davor als zu kurz gekommene Kinder, das ist der peinlichste Schmerz. Und wir spüren durchaus, wie jetzt schon nicht mehr, dass das alles zu viel ist.

Leonore hatte die Fähigkeit, alle noch so komischen oder missratenen Gegenstände zu entfremden und zu beseelen und in den Stand der Kunst zu erheben. In ihrer Wohnung erschien mir alles schön. Deshalb hatte ich nicht erwartet, dass Leonore vor einem Schaufenster stehen bliebe und nachdenklich würde. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass Leonore schönes Design betroffen machen könnte.

Zwischen Leonore und Ruth besteht eine Spannung sie schauen einander schnell und tief in die Augen. Leonore scheint darauf zu warten dass Ruth zu Sörga aufbricht. Während Ruth beweisen will, dass dieser Tag für Leonore und zwar zuallererst für Leonore bestimmt ist. Sie hatten einst versucht,  mit ihren Töchtern Linda und Roxanne (Roxanne ist zu dieser Zeit nicht in Berlin, weil sie auf eine Schule in Mecklenburg geht) in Leonores Haus auf dem Lande zu leben. Damals hatte Ruth versucht zu beweisen, dass Leonore ihr wichtiger sei als Rolf, den zu verlassen sie aber nicht in der Lage war. Was schließlich das Zusammenleben von Leonore und Ruth ihr feministisches Projekt irgendwie scheitern ließ.

Es gab damals keine Möglichkeit mit dir zu sprechen, sagt Leonore, die Berührung fehlte uns auch, so hast du es doch einmal genannt. Wir hätten miteinander im Bett frühstücken sollen und ich hätte das gerne getan aber es ging irgendwie nicht.

In  Westberlin hatte Lenore dann darauf bestanden, mit Ruth in einem Bett zu schlafen. Sie schliefen also still, durch dicke Decken getrennt, etwas unglücklich aneinander gelegt und irgendwie umarmt in einem Bett ein.

Dann ist das eben eine platonische Liebe, sagt Leonore. Und die Bücher, die du mir als erstes geschickt hast Simone Beauvoir und Marilyn French, die du von deinem ersten Geld gekauft und mir geschickt hast, habe ich mir erlaubt als Liebeserklärung zu verstehen, meine Liebeserklärung war das Bild.

Das Bild von Leonore auf eine Küchenschranktür gemalt, hatte sie einem reisenden Freund für Ruth mitgegeben. Es hängt jetzt neben dem Fenster über ihrem Arbeitstisch, ein Gesicht auf einer Landschaft, die N. ist.

Natürlich auch mit dem Hintergedanken, sagt Leonore, dass du dich für mich umschaust.

Ich hatte mir tatsächlich vorgestellt es kann nicht so schwer sein, für dich eine Galerie zu finden, nur eine einzige die zu dir passt, sagt Ruth.

Seit ich selbst mit meinen Dias, Leonore hatte sie von ihren Bildern anfertigen lassen, unterwegs war, weiß ich dass es ein Glücksfall wäre, sagt Leonore. Wie seltsam, nach diesem mindestens halben Leben mit Pinsel und Farbe und nichts anderem und Aufträgen sogar. Aber auch hier sitze ich ja unter dem Tisch, sagt Leonore. Eine ganze Weile bildet frau sich ein mit am Tisch zu sitzen, bis sie merkt, sie sitzt unter dem Tisch und lebt von dem was vom Tisch herunter fällt, also sitze ich unter dem Tisch.

Der zum zweiten Mal gebrühte Tee ist inzwischen bitter und kalt geworden. Ich lege die Reste unseres Frühstücks in Leonores Kühlschrank zurück, blicke mich in ihrer Küche um, in der die mit einer bemalten Holzplatte abgedeckte Badewanne steht. Wir gehen in den Raum den Leonore als Atelier benutzt. Auf einem alten Teppich hat sie ein Bild angefangen. Sie malt auf riesigen Leinwänden, auf alten Schranktüren und Fenstern. An der Wand hängt ihr großes dreiteiliges Tafelbild, das der Magistrat in Auftrag gegeben, gekauft und dann in den Keller gestellt hat. Und schließlich durfte Leonore das Bild in ihr Atelier zurücknehmen. Es ist ein Bild von Berlin, auch ein Stück Mauer ist darauf zu erkennen, die nicht sein darf.

Auf einem der Bilder klebt ein Knopf. Der Knopf ist ein Auge. Er gehöre einem Freund, sagt Leonore und lacht. Ich betrachte die Pinsel, die verklebten Büchsen, Teller und Butterschalen. Ich sehe zu meiner Schwester hin, einen Augenblick lang habe ich gedacht Ich möchte hier sein, es möge wieder so wie früher sein. Ich habe noch einmal das Gefühl des hier Seins. Meine Schwester schaut nickend die Bilder an.



Als Ruth gegangen ist sagt Leonore: Lass uns auch in die frische Luft, vielleicht fällt uns dabei etwas ein, vielleicht bekommen wir dabei eine gute Idee.

Es ist immer eine Balance zwischen Störung und Einsamkeit: Leonore wird beim Malen gestört. Leonore ist in Gefahr einsam zu werden.



Als Ruth zu Sörga kommt, als sie plötzlich vor ihm steht an seiner Tür, ist sie schon geübt im Wiedersehen und schließt ihn in ihre Arme. Es ist auch nicht ihr erstes Wiedersehen das erste war in Prag, als sie ihn vom Flughafen abholte und wie blind auf eine Person zu stürzte die Sörga sein musste. Sie spüren, dass sie sich sofort hinlegen werden. Sein Bett ist unbedeckt und einmal zusammengelegt. Jeder kennt die zeitlupenhaften Entkleidungsbewegungen des anderen. Sie verkriechen sich unter Sörgas dickem Federbett. Die Seelen fliegen einen Augenblick aufeinander zu, aus ihrer Brustgegend ist deutlich etwas atemberaubendes entschwunden.

Ich habe mich so gefreut auf diesen Tag, sagt Sörga. Aber jetzt du weißt nicht wie ich hier lebe du wirst morgen wieder gehen und ich bleibe zurück was soll das also. was soll das, sag es mir.

Sie fallen dicht ineinander verflochten in Schlaf. Als Ruth aufwacht ist es dunkel und Sörga wacht ebenfalls sofort auf, als sie sich regt. Er brennt auf einer Holzkiste, die neben dem Bett steht, eine Kerze an. Er sagt, Sie wüssten doch, dass sie zu ihm gekommen sei, sie würden doch alles registrieren. ( Aber Sörga wird kurz darauf einen Ausreiseantrag stellen).

Sörga hat Bilder von Leonore. Sie kann ihn, wenn sie krank ist rufen und erhält eine Beratung. Er stelle jedoch keine Ferndiagnosen am Telefon, hatte er einmal gesagt. Als sie sich kennenlernten, hatten Ruth und Rolf bereits einen Ausreiseantrag gestellt, während er diesem Vorgehen sehr zwiespältig gegenüber stand, was hieß, dass sie weggehen und er bleiben würde. Das hatte etwas Unwirkliches von Anfang an. Es war von Anfang an etwas Verräterisches dabei.

Sie hatte ihn eines Nachts kennengelernt in einer fremden Wohnung bei einem Freund, Thomas. Er saß beschaulich bei einem Glas Rotwein und Zeichnungen seines Freundes, die dieser wegräumte, als sie mit einigen Bekannten, mit denen sie in Prenzlauer Berg in einer Kneipe gewesen war, so war es üblich gewesen, diese fremde Wohnung betrat. Er sagte, er kenne ihr Buch, zumindest das Foto auf dem Umschlag. Er sprach mit ihr. Sie hielt ihn für einen Journalisten. Er war verheiratet gewesen und hatte einen erwachsenen Sohn.


Sie stehen auch am Morgen nicht auf. Die Kerze ist verbraucht. Man müsste dem Abschied zuvor kommen und fliehen, sich voneinander losreißen. Es scheint alles vergessen und nichts richtig besprochen. Von Stunde zu Stunde hat sich eine Trübnis vor ihren Blicken gesammelt, sie haben noch einen halben Tag.

Sag mir noch einmal die Begründung, sagt Sörga, als sie auf der Straße stehen zwischen den Autos am Straßenrand und zögern. Er legt die Hand auf ihre Schulter und blickt zu den Dächern hinauf. Der Kirchturm einer Kirche die Ruth unbekannt ist, ragt hinter den Dächern hervor.

Was sagst du, wenn du gefragt wirst nach dem Grund?

Ich kann es nicht mehr hören. Ich werde es noch lange nicht mehr hören können. Sie fragen auch, ist es nun besser hier, oder bereuen Sie ihren Schritt? Ich sage es ist nicht besser, aber schöner. Ich habe mitunter das Gefühl in die Vergangenheit geraten zu sein, was daher kommt dass ich den Geschichtsunterricht gut verinnerlicht habe und irgendwie marxistisch denke, ohne Marx gelesen zu haben. Ich spreche von meinen Gefühlen. Die kapitalistische Gesellschaft, der Teufel soll sie holen, Ich fühle die sogenannte Ausbeutung und Kälte und der Mensch scheint irgendwie wenig wert. Also muss ich vorher gefühlt haben der Mensch sei sehr viel wert, ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich habe keine Hassgefühle. Ich bereue meinen Schritt nicht, wie könnte ich das. Ich war nicht privilegiert, ich wollte einmal nach Paris.

Paris ist eine Metapher, sagt Sörga wütend.

Ich habe mir diesen Wunsch erfüllt. Ich war nicht verfolgt, ich konnte nicht schreiben. Was das Schreiben zum Scheitern verurteilte, war der Versuch, schreibend die Mauer abzutragen. Ich versuche es immer noch. Ich rate aber niemandem, diesen Schritt zu tun, denn das muss ganz aus einem selbst kommen, nicht einer Person wegen. Es geht um das Land. Ich möchte begründen können, sagt Ruth, warum ich nach 30 Lebensjahren erst auf den Gedanken gekommen bin, man könne in diesem Land nicht leben.

Aber dieser Gedanke, man könne in diesem Land nicht leben, trat erst auf, nachdem uns die Möglichkeit zu Gesicht gekommen war, man könne dieses Land verlassen. Aus diesem Grunde wirkten alle unsere Antragsbegründungen zu bemüht bis naiv. Sie sehen keine Perspektive mehr für sich?

Vielleicht lebten wir ja in einem Kindergarten. Aber die Infantilgesellschaft ist überall.


Auf dem Alexanderplatz in der Marienkirche ist eine Fotoausstellung. Wir wollen zum Abschluss unseres Besuches diese Ausstellung, die von der Friedensbewegung organisiert wurde, besuchen. Sie zeigt Fotografien von Kriegsverbrechen, eine Dokumentation der Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Vietnamkrieg, dem Nahostkrieg. Ich bin verkrampft, versuche aber meine Füße fest und sicher auf den Boden zu stellen. Ich stehe plötzlich schweißüberströmt vor einer der ersten Ausstellungstafeln. Vor den Tafeln stehen Gruppen von Menschen, die sich miteinander nicht verständigen. Ich tue so, als würde ich nicht dasselbe Foto sehen wie mein Nachbar, dabei zwinge ich mich dazu, jedes Foto lange und genau zu betrachten. Alle Ausstellungsbesucher scheinen sich dazu zu zwingen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Leonore hebt die Hand zu ihrem Nebenmann, als wolle sie doch ein Gespräch anfangen, lässt es dann aber sein. Auch wir 4 scheuen uns davor, ein Foto gleichzeitig gemeinsam zu betrachten. Ich beuge mich über die Texte, die sich in der Mitte des Raumes in einer Vitrine befinden. Sörga holt möglichst leise und selbstverständlich ein Notizbuch aus seiner Jackentasche hervor und schreibt etwas ab, was mehrere Besucher schweigend tun. Es sind Äußerungen von Schriftstellerinnen, (Christa Wolf) und Schriftstellern, von Wissenschaftlern und Politikern und von Angehörigen der Friedensbewegung, die eigentlich verboten ist, weil, sagt Leonore, der nichts neben sich duldende Staat, sich für die einzig mögliche Friedensbewegung hält.

Die Texte sind wach, denke ich, wir wollen alle wieder wach werden! Hier unter dem Dach der Kirche findet keine Verschiebung statt, keine der unmerklichen, kaum zu erfassenden Verschiebungen und keine der offensichtlichen, sonst üblichen Verdrehungen. Es ist so still in diesem Raum, dass ich meine eigenen Bewegungen knistern höre. Der Raum ist sehr klein, ich gehe nochmals an den Tafeln entlang. Ich versuche die menschlichen Leiber als Orte der Verheerung nachzuempfinden. Ich fange die Runde noch einmal an, um jedes Foto nochmals genau zu betrachten, jede Unterschrift genau zu lesen. Ich trete noch einmal vor die Vitrine, um jeden Text Wort für Wort zu buchstabieren. Dann will ich mich nur noch den gebotenen Ausdrucksmöglichkeiten hingeben (brav sein, bescheiden sein) und ein Geldstück, das ich aus meinem Portemonnaie klaube, in die bereitstehende Sammelbüchse werfen. Als wir draußen unter den  Fontänen sind fragt Ruth was Sörger sich aufgeschrieben habe.

Ach lass. Lasst uns Essen gehen.

Es ist doch möglich gewisse Dinge in der Kirche zu zeigen und zu sagen, fragt Ruth.

Eine blöde Frage. Es ist offensichtlich und wir wissen es aus den Nachrichten. Warum wird sie gestellt? Weil wir immer davon träumten einer Bewegung anzugehören. Hier ist sie, diese hätte es sein können, die Opposition. Wir haben es nie geschafft einer Opposition anzugehören. Wir bemerkten, dass wir nicht dabei waren. Nicht aus Angst nicht, sondern aus Einsamkeit nicht, aus der Unfähigkeit heraus überhaupt in dieser Gesellschaft anwesend zu sein. Leonore sagt sie habe das Tafelbild in der Kirche ausgestellt, ja unter dem Dach der Kirche sei etwas möglich, aber sie verstehe sich nicht besonders mit diesen Leuten, sie gehöre eigentlich nicht in diesen Kreis, sie könne die Dominanz von Männern nicht mehr vertragen wahrscheinlich nie mehr. Sörga schaut beleidigt zur Seite, auch er muss erklären, warum er nicht dabei ist. Weil viele in dieser Bewegung seien, um ihre Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu betreiben, die man nicht ernst nehmen könne und auch er würde zu denen zählen, die man nicht ernst nehmen könne. Wir stehen auf dem Alexanderplatz.

Ich erinnere mich an die Zeit, da der Fernsehturm gebaut wurde, der nun von Kreuzberg aus, von allen möglichen Standpunkten aus, zu sehen ist und uns Ostberlin jederzeit in Erinnerung ruft. Ruth und ich gingen noch zur Schule. Leonore und Sörga sind älter als wir. Wir bewegten uns in den neuen Cafés ziemlich orientierungslos, in der Hoffnung Menschen wie Leonore und Sörga kennenzulernen. In der Ferne das Brandenburger Tor, eine Mauer, dahinter eine Siegessäule, die nicht zu sehen ist.

Wir suchen ein Restaurant. Sörga kennt sich einigermaßen gut aus. Es flimmert vor meinen Augen, als wenn mir übel würde. Mit den üblichen, sich aber in Grenzen haltenden Schwierigkeiten bekommen wir einen Tisch, glücklicherweise einen für 4 Personen, sodass wir allein sitzen können in einem teuren Restaurant gegenüber dem Palast der Republik. Die ausgebildete Höflichkeit der Kellner fällt einem auf die Nerven. Außerdem könnte man denken, es seien alles Spitzel. Wir essen und wir trinken 2 Flaschen Wein. Leonore trinkt nur ein einziges Glas sie mag keinen Alkohol. Sörga hat alles bezahlt. Etwas benommen schlendern wir Unter den Linden entlang zum Grenzübergang. Leonore singt leise Melodien vor sich hin. Vor der gläsernen Halle umarmen und küssen wir einander. Ich sehe wie Ruth Sörger einen langen Blick in sein unbewegliches bleiches Gesicht wirft. Das erste Mal an diesem Übergang hatte ich nur das abfallende Land in meinem Rücken und vor mir nichts einen Augenblick lang nichts. 

 




Kapitel II



 

Ein Traum. Wir schlafen unruhig in dieser Zeit und dieser Traum ist ein seltsamer Traum. Ein kleines Kind erscheint, es ist Linda.

Wir fahren in die Stadt, wir wollen sie im Urlaub besichtigen. Wichtig ist, sich dieser Stadt auf einer bestimmten Straße zu nähern und das Wetter muss schön sein, dann kann man vom Bus aus die strahlenden weißen Häuser auftauchen sehen, die langsam in den blauen Himmel wachsen, weiße dreistöckige Häuser. Meine Schwester trägt ihr Kind auf dem Arm durch die Straßen, durch die weiße Strahlung der Häuserwände.

Während die Bewohner der Häuser wahrscheinlich zur Arbeit sind, schauen wir in die Fenster der unteren Etagen. Hinter den Fenstern in dicken Mauern befindet sich das übliche Mobiliar, befinden sich abgesaugte Teppiche, gelbliche Gardinen, ausgerichtete Stühle und öde Tische, Gläser in der Tiefe der Vitrinen, Leuchten, die immer genau von der Mitte der Zimmerdecke herabhängen. Meine Schwester mit dem Kind auf dem Arm zieht übermütig aus einem der Briefkästen die Tageszeitung heraus. Das Kind verfolgt mit den Augen diese seltsame Tat und legt seinen Kopf auf ihre Schulter, um gemütlich am Daumen zu lutschen. Die Sonne scheint in den marmornen Flur. Wir nehmen einen Anlauf die Zeitung zu lesen, wie es uns üblich erscheint. Es geht nicht, die Tageszeitung ist unlesbar. Ruth steckt die Zeitung zurück, stellt das Kind auf den Marmorboden und geht mit ihm an der Hand aus dem Haus. Wir betrachten ein Stück blauen Himmels hinter einer roten Wäscheschnur und einem dunklen Birnbaum, in einem Hof von gelben Sandsteinmauern. Wir betrachten die leeren Schaukästen am Theater, die Stadt ist leer. Als wir eine Anhöhe hinauf durch Gärten gewandert sind, kommen wir an einer Blindenschule vorbei und treffen, als wir durch ein weißes Tor, an im Schatten liegenden Wiesen wieder hinab gestiegen sind auf das Paar. Wir sitzen auf einer Bank und essen Brote, die Ruth am Morgen mit Butter und einer Leberwurst belegt hat und holen eine Flasche mit kaltem Zitronentee aus unserer Tasche. Ein Mann und eine Frau, älter als wir. Die Frau tastet sich immerzu mit dem Finger nach ihrer rechten Augenbraue. Die Frau spricht freundlich zu ihrem Mann, aber der Mann bewegt sich nicht. Er sieht nur gerade aus und sein Blick bleibt kurz vor uns stehen. Ich habe den Eindruck, dieser Mann leidet an einer Krankheit. Er wischt sich mit dem Taschentuch die Stirn und sie berührt seinen Arm, als dieser wieder von der Stirn herabgesunken ist. Dann hält sie die Hände vor sich hin und bewegt die Lippen, scheinbar ohne zu sprechen und der Mann, in der Wärme sehr dick angezogen, muss sich immer wieder die Stirn wischen. Als Linda sich in ihre Nähe wagt, haben sie keinen einzigen Blick für sie und scheinen das Kind zu übersehen, das zurückgelaufen kommt und auf den Schoß genommen wird. Sie nehmen ihre Umgebung nicht wahr. Bis plötzlich der Mann etwas zu uns herüber ruft. Er brüllt aber wir verstehen ihn nicht. Als würde er eine fremde Sprache sprechen. Wir wissen nicht, welche Sprache es sein könnte. Er will, dass wir verschwinden.

Ich schmeiße unsere Papiere und Tüten in den Abfallkorb. Ruth nimmt unsere Tasche und wir gehen mit dem Kind langsam zurück in die Innenstadt. Unterwegs hebt sie Linda auf ihre Schultern. An der Bushaltestelle warten wir im Schatten und frieren. Wir sitzen im Bus, tief in die weichen Polster versunken. Linda kniet mit ihrem harten Knien auf meinem Schoß. Wir fahren auf der Teerstraße zurück zur See, woher wir gekommen sind und Ruth sagt, es sei trotzdem eine Enttäuschung gewesen, man hätte es wissen müssen es sei immer so. Aber das Land öffnet sich, als würde es vor uns ausgelegt das Tempo des Busses scheint sich dabei zu verringern, Bäume stehen vereinzelt gegen den Horizont, grüne und gelbe Felder, in denen das Sonnenlicht des Nachmittags versinkt schlagen sich vor uns auf.

 


Es ist nachtblau. Ruth liegt in ihrem Bett und schläft. Sie ist wieder eingeschlafen nachdem ich aufgestanden bin und mich angezogen habe. Auch Linda, die zur Schule muss, ist noch nicht auf. Es ist meine Stunde. Die nachtblaue Himmelsfärbung steht in den oberen Fenstern die gardinenlos sind. Ich laufe die Treppe hinunter und trete in die Kälte der vergehenden Nacht. Die Laternen leuchten in das Morgengrauen hinein. Ich gehe das kurze Stück zum Kanal hinauf und einmal von Brücke zu Brücke um den Kanal herum. Es wird sehr langsam hell, ich kann es beobachten, aber noch sind die Flurfenster des Krankenhauses erleuchtet. Ich setze mich auf eine Bank. Unter den Büschen liegt nasses Laub. Ich sah einmal, wie vor dem Krankenhaus eine Filmszene gedreht wurde. Der gelbe Rettungshubschrauber stand zwischen den Eisenplastiken und der Kamera auf der Wiese. Ich hatte ihn auch einmal während einer Landung auf der Kreuzung von meinem Haus gesehen. Ich hatte eine Weile lang ein tosendes Geräusch vernommen, das ich nicht identifizieren konnte, und als ich zum Fenster sah, war die Aussicht völlig verstaubt. Ich dachte zuerst die Straße würde aufgerissen und dann auch für einen Augenblick an eine Katastrophe. Auf der Straße hatten sich verschleierte Frauen und Kinder versammelt. Die Flügel des Hubschraubers waren immer noch in Bewegung und zeichneten einen roten Kreis in die Luft. Von dem eigentlichen Geschehen einer Rettung konnte ich nichts sehen. Dann erhob sich der Hubschrauber mit demselben Getöse wieder in die Luft.

Ich gehe vom Kanalweg eine Straße hinauf vorbei an den Kisten vor den Gemüseläden. Ich überlege, ob ich eine zum Anfeuern des Ofens mitnehmen soll. Ich lasse es sein es ist mir lästig. Zu Hause wird sich schon noch ein Stück Holz finden. Ich gehe zu einem türkischen Bäcker, dem einzigen weit und breit der Schrippen backen kann. Die Schrippen sind noch heiß. Ich gehe mit den gekauften heißen Schrippen wieder zurück in das graue Häusermeer hinein, in dem Ruth und Linda wohnen. Ich höre das Klappen von Türen. Eine schwarzhaarige dünne Frau führt ihren Hund aus, in jeder dieser Straßen führt um diese Zeit jemand seinen Hund aus. Die Laternen brennen immer noch. Es ist der Bezirk mit einem hohen Anteil an Republikaner Wählern bei den letzten Wahlen, ausgenommen die Grenze zu Kreuzberg. In den Schlagzeilen lese ich, dass der Ministerrat zurückgetreten ist. Ich muss mich zur Freude zwingen.

Wir heizen die Öfen und frühstücken. Linda bekommt das Frühstück ans Bett, damit sie besser aufstehen könne, sagt Ruth. Meine Schwester sagt, sie habe eine Entdeckung gemacht. Dieses Gesicht unserer Mutter, dieses traurige Gesicht, an das sie sich plötzlich erinnert habe, als sie diese Fotografie von ihrem ersten Geburtstag betrachtet habe, trete jetzt immer deutlicher hinter dem freundlichen lachenden Gesicht von Irma hervor. Sie habe sonst immer eher das fröhliche singende Gesicht Irmas vor Augen gehabt, singend und durch den Wald laufend, singend am Abend vor unserem Bett.

Ich habe dieses andere Gesicht plötzlich entdeckt, sagt meine Schwester. Es ist da gewesen, als sie uns zum ersten Mal ein Stück Melone brachte. Sie kam mit ihrem vollen Einkaufsnetz über den Rasen zu den Teppichklopfstangen gelaufen, an denen wir turnten und reichte uns mit diesem unendlich traurigen Gesicht, diese wunderbar rot leuchtende fremde Frucht. Ich stelle sie mir manchmal vor bei unserer Großmutter, ihrer Mutter, in der Winsstraße im Hinterhof. Ich stellte sie mir vor als Mädchen in ihrer weißen Bluse mit ihrem schwarzen Tuch, wie sie mit hoch gerecktem Arm ihren Gruß grüßte.

Sie hatte erzählt, sie, ein Kind, habe einmal versehentlich eine ihr bekannte jüdische Frau auf diese Weise gegrüßt.


Unsere Mutter war anders als all die anderen Mütter, als die Mutter einer Freundin zum Beispiel deren Mann Berufssoldat war und bei der wir nach der Schule im Fernsehen Partisanen Filme anschauten. Ich wusste, unsre Mutter war schuldig. Nie hatte ich gehört dass außer uns noch jemand eine schuldige Mutter gehabt hätte. Ich wusste es von ihren Erzählungen, die ich nicht richtig hörte, denn Sie waren ungeheuerlich und es gab keinen ähnlichen Fall, in der Schule nicht und nirgends, nicht in diesem Land, sie alle waren außer Landes, nur sie nicht, unsere Mutter.

Ich erinnere mich an die Küche dieser Großmutter. Es war ein langer Schlauch. Auf der einen Seite an der Tür stand der Küchenschrank, an dessen Fächern Spitzen mit Reißzwecken befestigt waren. Daneben ein Tisch mit einer Aluminiumwaschschüssel darauf. Neben der Schüssel klebte ein Stück grüner Seife, neben dem Tisch der emaillierte Ausguss, gegenüber der Küchentisch, auf dem eine Brille lag, die Zeitung, ein Bleistift und die Tropfen standen, die sie bei Aufregung zu sich nahm. Über dem Waschtisch ein Spiegel, davor das Zahnputzglas. An der Speisekammertür 2 Haken mit einem Küchentuch und einem Morgenmantel.

Unsere Großmutter war eine sehr weißhaarige kleine Frau in einer Kittelschürze. Die Männer dieser Familie waren alle bei der Bahn beschäftigt. Ich erinnere mich an einen, der ein sogenanntes Holzbein hatte, einen Bruder unseres Großvaters.

Wir wissen nur wenig von ihnen, sagt Ruth.

Die Mutter unseres Großvaters lebte in einem Pflegeheim. Dort müssen auch wir sie einmal besucht haben. Gemeinsam mit unserer Mutter, müssen wir in einem großen Saal mit Eisenbetten nach einer dünnen grauhaarigen Gestalt gesucht haben. Wir müssen durch den Gang an den Eisenstangen der Betten entlang gegangen sein, während unsere Mutter jeden in ein Kopfkissen versunkenen Kopf ins Auge fasste, bis wir an einem der Betten stehen blieben. Wir sollten unsere, uns vollkommen unbekannte Urgroßmutter, die einmal Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei, begrüßen und uns für eine Weile auf den Rand ihres Bettes setzen, während unsere Mutter Wasser holte und Blumen in eine Vase stellte, sich umsah und lächelte und aufräumte. Meine Schwester sagt, bei den Papieren unserer Mutter, habe sich ein Brief jenes Großvaters an unsere Mutter befunden, in dem er ihr kurze Zeit nach dem Ende des Krieges schrieb sie könne sich scheinbar nicht damit abfinden, dass diese Großmutter und auch deren Kinder seine Geschwister nun von dieser neuen Regierung ins Recht gesetzt seien und es wäre an der Zeit dass diese Großmutter, seine Mutter, ihre Zuwendung erhalte. Nie hatte sie vor unseren Ohren ihre Großmutter in Anspruch genommen, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen, nur wir hätten das scheinbar nötig gehabt. Ich sah sie an der Schreibmaschine sitzen und ihr Tagebuch abtippen, ihr Tagebuch aus der Zeit des Krieges, des Faschismus, des BDM. Ich sah sie mit ihrem zerrissenen Blick, etwas retten wollen, was nicht zu retten war, ich sah sie an ihrer Schreibmaschine sitzen und dieses Tagebuch abtippen, damit etwas erhalten bliebe etwas erkannt werden könne, als eine dennoch unschuldige Jugend. Ich sah sie eine verzweifelte Auseinandersetzung führen, auf die niemand reagieren wollte. Es war außer uns niemand da. Später sah ich sie in einem Hotelzimmer in Sotschi mit der Putzfrau, einer gebeugten alten Frau am Fenster stehen und den Kaukasus betrachten. Keine sprach die Sprache der anderen. Und doch fand eine Versöhnung statt. Menschen können miteinander reden. Wir einfachen Menschen, die eigentlichen Menschen, hatte sie gemeint. Stalin diente der Kompensation des eigenen Diktators auf den man herein gefallen war. Das musste sie beruhigt haben. In Georgien dürfe man gegen Stalin nichts sagen und in Moskau auf seinem Grab an der Kreml Mauer, in das seine Überreste wieder zurück bestattet worden wären, hätten Blumen gelegen. Irma sang ihr deutsches Volkslied, es sei vor den Nazis da gewesen. Moskau, eine Stadt voll nächtlichen Gesangs, die unsere Mutter plötzlich liebte. Ich sah sie am steinigen Strand des Schwarzen Meeres auf einer Luftmatratze liegen und schlafen mit verzerrtem halb geöffnetem Mund.

 


Die Tage der Mauer sind gezählt. Und natürlich wissen wir nichts davon. Es wäre das letzte, das uns in den Sinn käme. Diese Mauer, in der wir gewachsen sind, die sich mit unseren kindlichen Körper verschmolzen hat, ist ewig. Es ist unmöglich in die Vergangenheit gehörende Mauersätze zu schreiben sie existieren nicht. Die Mauersätze existieren nur heute von außen, nur außerhalb. Sie werden von außerhalb eingeschleust. Sie müssen langsam von Mund zu Mund gehen. Wir wissen nichts davon. Nur jene, welche die Mauer gebaut haben, müssen plötzlich in ihrer letzten Stunde auf den Gedanken gekommen sein, dass sie abreissbar ist.

Ich sehe, als ich am Abend von der Bibliothek nach Hause gehe auf dem schmalen Rasenstück vor dem Auffanglager die neu angekommenen Flüchtlinge sitzen. Ich nehme an, dass sie aus Ungarn gekommen sind.

 


Die Mauer ist plötzlich eine Ruine, über die das so lange gefangene Licht jetzt hinweg streift. Wir können hinaufsteigen und uns nach all dem umschauen, nach diesen Grenzapparaten, von denen wir kaum eine Vorstellung hatten, wir können hinauf gehen und versuchen, unseren Tränen freien Lauf zu lassen. Aber wir halten die Tränen zurück. Die Gesichter der Menschen sind sehr blass. Wir sind blass und wie vor den Kopf gestoßen. Laufend ist in mir eine Tätigkeit, alles verschwimmen zu lassen. Die Deutlichkeit der Vorgänge ist unerträglich und wir können nicht hören was geschehen ist. Die Telefone klingeln. Wir müssen uns gegenseitig bestätigen, was wir gehört haben. Wir schlafen darüber ein. Die Telefone klingeln in der Nacht.

 


Ich habe einen weiten Blick über die Mauer. Jetzt da der Schmerz alles ist, also schmerzlos ist, bekommen wir einen weiten Blick über das ganze Land. Linda, die ins Zimmer kommt bringt die Nachrichten noch einmal, spielt sie uns noch einmal lachend zu. Wir bekommen einen ordnenden Blick und alles ist vollkommen selbstverständlich.

Ich fühle meinen Körper wie abgeschnitten ich liege vor der dunklen Stadt und betrachte ihren leicht geöffneten Mund. Ich begegne der Stadt wie einem lange verlorenen Menschen, einem lange verlorenen Zimmer. Endlich ist alles Verlorene und fast schon Vergessene wieder vorhanden.




 





Kapitel III




Ich schalte das Radio ein, denn in diesen Tagen dürfen wir keine Nachricht versäumen. Wir werden süchtig nach Nachrichten. Auf dem Balkon blühen immer noch die Margeriten unermüdlich bis in den Frost hinein. Die Straßen sind überfüllt. Wir schauen an den Gesichtern entlang. Wen genau suchst du auf der Straße? Seltsamer Weise verlieren wir uns für ein paar Tage aus den Augen. Wir machen uns auf den Weg, als wir begriffen haben, dass es möglich ist. Es gibt kein Einreiseverbot mehr.

 


Sörga läuft einen weiten Weg zu Fuß an Winterfeldern entlang. Es ist Winter. Die Erde ist hart. Unter den verdorrten Gräsern leuchten grüne Spitzen hervor. Es ist Winter, er muss es sich sagen. Er hat es für einen Augenblick nicht gewusst, er musste sich bestätigen, dass Winter ist . An einem der Bäume zu beiden Seiten der Teerstraße, hängt verdorrtes dunkles wie gepresstes Laub. Die Bäume sind kahl und schön. Immer wenn ein Auto an ihm vorbeifährt, zuckt er zusammen und wundert sich über seine seltsame Idee, ohne Auto zu kommen. Er hat sich erklärt, gehen zu wollen, praktisch eine Wanderung zu machen, um Zeit zu haben, Zeit, um anzukommen. 2 Jahre sind vergangen, sie sind natürlich schnell vergangen,  aber hier ist es anders, hier ist es mehr, viel mehr. Vielleicht will er auch, dass es mehr Jahre wären und er hatte geahnt, dass er es hier empfinden würde. Er war in Ostberlin, aber Thomas war nicht in seinem Atelier gewesen. Er hatte mit Martina verabredet, dass er hierher aufs Land kommen würde. Er hat sich für ein paar Tage Urlaub genommen. Er weiß nicht, ob er sich von den anderen abheben will, oder ob das ganz von selbst geschieht. Sein Identitätsbaukasten sagt ihm, er sei ein anderer geworden. Oder besser, er ist der geworden, als der er vorgesehen war. Und Arzt kann man überall sein. Die Straße ist glatt und glänzend. Es ist gut, dass es lange dauert. Er will die Straße genießen. Das Dorf hinter den Äckern nähert sich nicht, als würde er auf der Stelle treten. Er sieht nur die Dächer und den Kirchturm. Der Nadelwald hinter dem Acker, unbeweglich und schwarz, nimmt kein Ende. Es ist vollkommen windstill. Nach einer Weile glaubt er, nicht mehr weiter zu können. Es ist plötzlich idiotisch zu laufen. Er besinnt sich darauf, dass er ein Wanderer sein will.

 


Er hat Thomas das letzte Mal in einer Buchhandlung gesehen, als sie sich schon voneinander verabschiedet hatten, ein oder zwei Tage vor seiner Ausreise. Er war nur hineingegangen, weil er ihn drinnen gesehen hatte. Er war ihm damit auf die Nerven gegangen. Thomas hatte ihn nicht mehr sehen wollen. Er hatte von diesem Thema nichts mehr hören können.

 


Sörga hat die Wegbiegung erreicht und sieht das Gehöft vor sich liegen. Das erste des Dorfs, etwas abseits von den anderen Gehöften, so dass er nicht durch das Dorf hindurchgehen muss. Er geht den Sandweg an der Schonung entlang die das Gehöft wieder verdeckt. Er denkt darüber nach, dass er hier ist, dass es möglich ist hier zu sein, dass er alles eines Tages so wieder vorfindet, als wäre nichts geschehen, nur die Perspektive ist etwas verschoben. Er kennt dieses Gefühl. Es muss nicht von dieser Situation hervorgerufen werden, das Gefühl des Zurückkehrenden ins Unveränderte. Er geht auf das Tor zu und blickt in den Garten. Er schiebt den Riegel geräuschvoll auf und geht über das Kopfsteinpflaster zur Tür. Er tritt ein und der Geruch des alten Hauses strömt ihm entgegen. Er hört, dass Thomas die Treppe herunterkommt. Er steht in Latzhosen vor ihm. Sie umarmen einander. Er sagt, er hätte ihn vom Bahnhof holen müssen. Es ist wie gestern. Es könnte wie gestern sein.

Es war schön hierher zu gehen, sagt Sörga. Sie sitzen eine Weile in der Küche und essen, schneiden dicke Scheiben von einer Salami und vom Brot, das Thomas aus einem hohen Tongefäß genommen hat. Sie trinken Kaffee. Nach einem Schweigen fragt Sörga, ob sie nun beide vor den Veränderungen aufs Land geflohen seien.

Nein, er sei dabei, sagt Thomas. Er habe auf dem Alexanderplatz für Demokratie demonstriert. Er sagt, er sei für die Erhaltung des Sozialismus. Er sei erst einmal kurz nach der Eröffnung im Westen gewesen, er könne es nicht ertragen. Es müsse zu vieles heraus, man müsse sich zurückziehen, um sich auszuweinen, um sich innerlich auszuspülen, man müsse überlegen, sich einer politischen Gruppierung anzuschließen. Alle Nachrichten, die er höre, hätten ein Gefühl zur Folge, als würde man aufgelöst. Es sei heraus gekommen, dass man sich in einem Gefängnis eingerichtet habe, mit einem eigenen Beitrag, dass man es sich gemütlich gemacht habe in diesem Gefängnis, dass man sich mit Beton habe ausgießen lassen. Sörga schmunzelt und denkt, er hat all das in den letzten Tagen schon viele Male gesagt. Er fasst es noch einmal für mich zusammen. Er hat graue Haare bekommen, er versucht sich zu engagieren. Er fragt nach Ruth, er fragt nach meinem Sohn, der es gut packen wird, weil er noch alles vor sich hat und der sich nicht verpflichtet fühlt, jetzt endlich einer Partei beizutreten. Er fragt nach meiner Mutter, auch nach der Arbeit im Krankenhaus. Nach seinen Bildern an meinen Wänden. Die ich natürlich mitgenommen und aufgehängt, während ich meine Bibliothek radikal reduziert habe. Nur Germanisten und Geisteswissenschaftler haben eine Bibliothek. Wir kennen uns über die Kunst, denkt Sörga. Er ist Maler geworden. Er sagt, dass Ruths Schwester kommen wird, also nicht sie. Er holt eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Wir werden trinken, zuerst ein Glas und am Abend noch eine Flasche oder ein Bier in der Kneipe. Wir werden die Tagesschau sehen oder auch die aktuelle Kamera. Wahrscheinlich beides.   

 


Der Wein, (falls du den noch magst), kratzt. Sörga hat ebenfalls eine Flasche dabei in seinem Beutel mit Zahnbürste, Rasierzeug, Unterwäsche, Hemd und einem Schreibblock für alle Fälle.

Wer ist schuld, sagt Thomas. Wir alle, oder die Clique, die Stasi, der Honecker, ein einziger allein vielleicht? Und diese Leute, die plötzlich auftauchen mit ihrem Strafbedürfnis und die Betriebsdirektoren, die plötzlich von der Marktwirtschaft reden.

Auch Sörga hatte vorgehabt, die Vorzüge der Marktwirtschaft zu besprechen. Er hatte sich einen von Cohn-Bendit verfassten Artikel aus der Zeitung ausgeschnitten, in dem dieser schrieb, dass wir heute sehen würden, dass sich im real existierenden Kapitalismus eine zivile Gesellschaft entwickelt habe und diesen in sein Notizbuch geklebt.

Es ist ihm peinlich, das Gefühl, sich nicht zum Umdenken durchringen zu können. Er würde so etwas von sich aus niemals sagen können, ohne dass er es vorher gehört oder gelesen hätte. Er konnte auch nicht Stalinismus sagen.

 


Draußen ist es trübe und immer noch windstill, ein Gewirr von kahlen Rosenbüschen vor dem Fenster, ein alter großer Feuertopf vor dem Scheunentor.

Und dieses nie wieder Sozialismus, sagt Thomas, kannst du mir erklären, wo all diese Leute plötzlich herkommen? Schon als in Ungarn die sozialistischen Insignien abgeschafft wurden, ist mir schwindlig geworden. Dabei ist diese Idee mir eher zu gefallen. Ich habe sie nie vertreten, erst jetzt. Wahrscheinlich verstehe ich keine Politik, weil sie scheinbar immer hohl ist. Das Gesagte macht Sörga nervös und ungeduldig. Ihm scheint plötzlich, dass er von Thomas enttäuscht ist. Aber er will diesen Gedanken nicht verfolgen. Ganz und gar nicht.

 


Am Nachmittag trinktSörga in der Gaststätte des Nachbardorfes einen Kaffee. Auf den Tischen liegen braun gemusterte Wolldecken. Er ist der einzige Gast. Er weiß jetzt sicher, dass etwas sich immer wiederholt, an all den für ihn verloren Orten, deren Zahl ansteigt. Er ist in ihnen nicht vollkommen vorhanden. Er ist in einem Film. Als er die Kneipe verlassen hat ist er weiter allein in der frischen Luft. Er geht über die Straße und beobachtet ein weiß gefiedertes Huhn hinter einem Lattenzaun. Es steht in einer Pfütze in der ein Strohhalm schwimmt und pickt. Der rote Kamm, ein schlenkerndes Fleisch wie eine rote Zipfelmütze. Das ist für den heutigen Tag mein schönstes Erlebnis, denkt Sörga. So einfach ist das. Aber vielleicht wird es eines Tages keine Hühner mehr auf den Höfen geben?

Er sieht jemanden im blauen Arbeitsanzug in die Kneipe gehen. Er sucht nach einer Veränderung, er will ihm unbedingt ins Gesicht schauen. Er sieht aber nur den Rücken eines alten Mannes, der zuvor von einem Fahrrad gestiegen ist, das er unangeschlossen am Geländer hat stehen lassen, was hier immer ungefährlich war. Er geht die Straße ein Stück hinauf, um die Kirche zu sehen. Es ist unmöglich etwas anders als politisch überschattet zu empfinden. Die Häuser, die alten Bäume, das Pflaster, der Acker spiegeln seine eigene Unbewegtheit  wider. Ihm ist als müsse er deswegen mit ihnen zusammen in Vergessenheit geraten.

 


Martina steht am Herd und rührt mit einem Holzlöffel Fleischstücke in einem Topf. Sörga der am Küchentisch sitzt scheint sich in einer außerordentlich fröhlichen Stimmung zu befinden. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Er ist ein Westbürger geworden, meiner heimlichen Betrachtung nach. Er gehört einer anderen Klasse an als wir. Es tritt hier besonders deutlich hervor. Diese neue Hülle, dezent und teuer, ist bereits in ihn übergegangen. Er braucht  keinen Job in der Gastronomie oder im sozialen Berreich oder auch in einer Galerie. Das alles ist möglich.

Sie haben einen neuen Ministerrat gewählt, sage ich, in eurem und unserem ehemaligen Land.

Die heiße Luft aus dem Backofen wärmt meine Füße. Ich gieße mir eine Tasse Kaffee ein. Sörga steht auf um neues Wasser aufzusetzen und neuen Kaffee zu brühen.

Was heißt ehemalig, sagt Sörga. Wir sind aus diesem Land gekommen, aber wer hätte das vor ein paar Wochen noch für möglich gehalten, dass wir uns hier wieder zusammen finden.

Ich trinke meinen Kaffee, während ich die Handhabungen Martinas betrachte.

Ich dachte, dass Ruth hierher kommt, aber sie wollte wohl nicht.

Ich nicke. Die Sonne scheint auf tropfende Zweige darunter die vertrockneten harten Gräser. Thomas ist im Keller und heizt. Ich sitze mit dem Rücken zum Fenster. Sörga und ich schälen die Kartoffeln.

Es ist schön, sage ich.

All die Tage gingen einem die Umbrüche unter die Haut. Hier setzt sich langsam wieder was aufgewühlt war.

 


Es wird nie wieder so sein wie es war. Die 30 oder 40 vergangenen Jahre sind die Hälfte unseres Lebens, eigentlich sind sie das ganze Leben. Es wird nie wieder so sein wie es einmal war, als wir morgens im Schlafanzug und in Gummistiefeln zur Scheune liefen um Kohlen zu holen und alles in sich ruhte, wie es schien, für immer in sich ruhen würde. Jetzt haben wir das Gegenüber verloren, sind unser eigenes Gegenüber geworden. Wir erkennen überall unser Spiegelbild. Wir heben uns nicht mehr ab. Wir versuchen uns in unseren Mänteln zu verbergen, laufen nur noch mit halb geöffneten Augen umher und erreichen so ein leichtes Schwingen der Bilder,  um uns zurücknehmen zu können.  

Sörga, den ich beobachte, scheint sicher den Augenblick zu Leben. Ich sitze bei Martina in der Küche. Mir ist, als hätte es keine Trennung gegeben, nur etwas Abgerissenes, nicht von Belang, eine Möglichkeit, die jetzt vergessen ist. Es lohnt nicht, nach dem Riss zu suchen. Er ist geschlossen. Es gibt Wichtigeres auf der Welt, als diese beiden deutschen Staaten. Ich bin müde und habe das Bedürfnis, gesagt zu bekommen, was ich machen soll. Ich träume. Ich bin nicht aufgewühlt.

Das Naheliegende, sagt Sörga, steh auf und hol eine Flasche Wein! Ich stelle derweil die Gläser auf den Tisch. Steh auf zieh dich an und geh an die Luft, auch wenn die Luft nicht ganz so sauber ist, begnügen wir uns mit der, die vorhanden ist, sagt Sörga. Die Medien seien ungenießbar, man dürfte sie nicht mehr konsumieren.

 Ich störe mich an dem Wort Revolution, mit dem ich irgendwie überfüttert bin. Die Stimme der Medien. All das sei möglich geworden durch den Genossen Gorbatschow. Man wird uns noch eine Weile hinhalten mit Gorbatschow.

Er hat Miss-Wahlen eingeführt, bemerkt Sörga. Niemand scheint ihn zu hören.

Wir haben ihm viel zu verdanken, was er so nicht gewollt haben kann. Er schien der Besitzer eines uns gewohnten Hauses zu sein, der Utopie, an der wir in unserem Leben bisher nie wirklich gezweifelt haben. Es fehlte nur Freiheit?

Aber was ist es? Der Gagarin unserer Kindheit? Denn es handelt sich ja um unsere Kindheit. Die heiße Erschöpfung nach einem sinnvollen Tag in der Produktion unserer Jugend? Der Friede über diesen endlosen Äckern?

Die jedoch ziemlich vergiftet sind.

Hatten wir nicht Che Guevara für uns vereinnahmt, weil wir uns wünschten, dort dazu zu gehören und war nicht das Gefühl dabei, Che Guevara könnte etwas mit dem uns irgendwie innerlichen Sozialismus zu tun haben, der etwas anderes, als der uns äußere war. Weinten wir nicht über Chile, weil wir Bürger der Welt sein wollten, außerhalb unseres Gefängnisses. Die Freiheit gab es in Westberlin. Nach der anfänglichen Teilnahme an einigen Demonstrationen, hatten wir uns nicht mehr bemerkenswert politisch engagiert, entgegen dem, was wir uns vorgenommen hatten (endlich!)

Die Wahrheit ist, dass wir mit dieser Utopie nichts mehr anfangen können, sagt Sörga.

Was sie mit uns gemacht haben! Sagt Martina, und was wir unseren Kindern zugemutet haben.

Ansgar will nach seinem Studium ins Ausland, also weg von hier. Kerstin, ihre Tochter, ist über die offene ungarische Grenze in den Westen geflohen.

Ich habe es nicht für möglich gehalten. Sie ist in Frankfurt. Sie will ihr Abitur nachholen und studieren, was hier nicht ging. Sie schlägt sich als Kellnerin durch. Sie macht es gut. Sie hat mich zum Essen eingeladen, sie hat mir eine Cola gekauft, wie einem kleinen Kind. Und jetzt stellt sich ein Minister hin und sagt, ich entschuldige mich, ich entschuldige mich besonders bei der Jugend und ein anderer jammert: Ich liebe euch. Das ist doch nicht auszuhalten.

Du bist verbittert, sage ich.

Dir geht es wohl nicht gut, sagt Martina.

Das geht doch nicht, sagt Sörga, mit diesem Mitleid geht es doch nicht. Wir haben überhaupt noch keine Sprache dafür, die Begrifflichkeiten passen nicht mehr.

Dann müssen wir eben die Sprache bewegen, sagt Martina. Aber Wer kommt schon gegen die Stimme der Medien an. Wir bewegen doch unsere Sprache nicht selbst. Dazu muss man sich hinsetzen und nachdenken, aber die meisten haben dazu keine Zeit und vielleicht ist es den meisten auch egal. Sie reden um sich zu zugehören, nicht um etwas herauszufinden.

Die Menschen sind wie sie sind, sagt Martina, wir werden eben nicht mehr in der großen Utopie denken.

Aber es müsse Rechenschaft abgelegt werden. Sie wolle sich mit Gejammer nicht abspeisen lassen, sie wolle wissen, warum man ihr das angetan und was sie selbst getan habe, sie wolle es wissen, sie wolle das öffentlich abgehandelt haben. Wir schweigen. Ich hätte Heiterkeit bringen sollen, denke ich, anstatt mich an dem Schmerz zu beteiligen, aber vielleicht würde es noch eine fröhliche Wut werden.

 


Die schönen Dinge.

Ich stelle mir West-Berlin vor, wie es für mich zu Anfang war und vor ein paar Wochen noch. Die Wohnung meiner Schwester, die Straße mit dem Waschsalon und den Trödelläden, das griechische Essen im griechischen Restaurant in der Nacht, die Dunkelheit über den Laternen, die Mauer ringsherum, die man anfassen konnte. Diese Stadt mit den Krähen und den Trauerweiden am Kanal und dem gelben Hubschrauber über dem Krankenhaus.

 


Thomas steht an das Küchenbord gelehnt. Dann nimmt er Teller aus dem Regal und stellt sie auf den Tisch, langsam. Dann holt er das Besteck.

Haben wir genug Besteck? Selbstverständlich. Er sagt, es sei eine verrückte Zeit, in der wir lebten, einfach verrückt. Ich stelle meinen Stuhl näher ans Fenster, um einem noch fehlenden Stuhl Platz zu machen. Martina schüttet die Kartoffeln in eine Schüssel. Das Fleisch in eine andere Schüssel. Wir essen, wir trinken Elsässer Wein.

Wir werden alle wieder zusammenkommen, sagt Sörga. Wir werden ins Elsass fahren oder sonst wohin. Angesichts der Flasche hatte ich den gleichen Gedanken, weil ich wusste, dass Sörga sie aus Frankreich mitgebracht hat. Frankreich Paris all die Sehnsüchte.

 


In Paris bin ich allein: Ich gehe über einen Friedhof, an dem ich zufällig vorbei gekommen bin. Ich sehe vor allem jüdische Grabmäler. Erst als ich den Friedhof fast durchlaufen habe, tauchen Kreuze auf den Grabmälern auf. Ich betrachte eines der Grabmäler aus Granit, ein Kommandeur liegt hier begraben. Auf dem schwarzen Stein sitzt eine schwarze Katze. Ich schaue mich um, der Himmel ist weiß und durchsichtig, sehr hoch. Auf einem Autodach auf der Straße sitzen eine schwarze und eine weiße Katze. Die weiße Katze bleibt sitzen, während ich vor ihr stehe, sie putzt sich, sie schaut. Sie scheint keine Angst zu haben. Ich suche eigentlich den Friedhof Montparnasse, auf dem ich dann das Grab von Baudelaire finde.

Als ich in Paris war, hatte Leonore gesagt, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Dieses Gefühl hatte ich auch.

Im Grand Palais, auf dem Fußboden sitzen Kinder einer Schulklasse und zeichnen vor den Gemälden Rousseaus.

 


Es wird nie mehr so sein, wie es war, sagt Sörga. Und es wird nie mehr so sein, wie es hätte werden können, sagt Sörga und lacht.

Damit meint er wohl, dass den Ausgereisten nun dieser Umbruch in die Quere kommt. Wird es so sein, dass wir uns aneinander halten oder eher so, dass wir einander aus dem Wege gehen?

Wenn wir nicht schnell rekonstruieren, was geschehen ist, sagt Thomas, vermischt sich alles miteinander, schon jetzt fängt das Vermischen an. Man vergisst, was noch vor kurzem gewesen ist.

 


Ich esse vor dem Grand Palais auf einer Treppe sitzend einen Käse und versuche mir alles genau einzuprägen, das hellglänzende Wasser der Seine, die sandfarbenen unversehrten Häuser, die Plätze. Als hätte ich etwas zu verlieren, als wäre es unverzeihlich, auch nur den geringsten dieser Eindrücke zu vergessen. Vielleicht sind es immer die Anfänge, die da sind, so wie die Eindrücke der Kindheit.



Unser Vater sitzt in seinem Zimmer in seinem Sessel und sieht bei einer 25 Watt Birne fern. Er sitzt hinter einem dürftigen Bücherregal, in dem einige Bildbände stehen, Picasso, Lesser Ury, Rembrandt und Schiller und Goethe und ein handlicher zerlesener Zarathustra. Ich sehe ihn des Öfteren darin lesen, ohne dass er jemals etwas darüber geäußert hätte. Ich habe dieses Bild vor mir und es ist mir völlig unbekannt geblieben, was mein Vater mit Zarathustra oder mit Nietzsche im Sinne hatte.

Bevor meine Mutter und er morgens ins Büro gehen, essen sie im Stehen und während sie Brote zum Mitnehmen schmieren, Knäckebrote mit Marmelade. Wenn wir uns später an den Tisch setzen, sind die bereit gestellten Knäckebrote aufgeweicht.

 


Sörga und Thomas haben sich vom Tisch erhoben. Sie waschen ab. Die Tropfen auf den Zweigen sind verschwunden. Ich sitze vor Martina. Wir trinken Kaffee und Wein.

Wie geht es dir überhaupt?

Es geht, es muss.

Martina legt sich einen breiten dunkelgrünen Schal über die Schultern. Ich mag diese Frauen mit den sommersprossigen Händen und den aschblonden Haaren. Wir wollen morgen früh zurück fahren in Martinas altem Skoda. Sörga und Thomas können noch bleiben.

Willst du, dass wir spazieren gehen?

Im Dunkeln?

Es ist noch nicht dunkel, du wirst sehen. Martina lacht.

Wir ziehen unsere Mäntel an und gehen in den Garten. Die Scheune und die Obstbäume verlieren in der Dämmerung langsam ihre Konturen. Es ist kalt. Ich binde mir meinen Schal um den Kopf. Wir steigen über die Grashügel, über lange, verwelkte, abgeknickte feuchte Gräser.

Warum ist Ruth nicht mitgekommen?

Weil sie nicht sein will, wo er ist.

Ich weiß nichts davon, du brauchst mir nichts zu sagen. Ich habe mir schon so etwas gedacht. Reden wir lieber über Leonore. Sie schien so stark und gesund. Als ich sie das letzte Mal sah, bin ich ihr aus dem Weg gegangen. Ich hatte Angst, dass sie wieder mit unserer Ehe anfangen würde, mit Thomas und mir. Sie wusste überhaupt nicht, was eine Ehe ist. Kinder, Verpflichtungen, auch Glück natürlich, etwas gemeinsames. Sie war allein.

Sie hatte Roxanne, sehr viele Freunde, sage ich, doch, sie hatte uns alle. Und viel Aufmerksamkeit. Sie war das enfant terrible.

Sie war eigentlich Thomas Freundin und nicht meine. Nein ich bin nicht eifersüchtig. Es gibt mir nur irgendwie zu denken.

Sie war eine besondere Frau. Das muss man einfach mal so hinnehmen, sage ich.

Martina gibt ein befreiendes Seufzen von sich. Sörga ist in mein Büro gekommen, stell dir vor. Er stand plötzlich in der Tür in einem langen grauen Mantel. Darunter trug er seinen weißen Kittel mit einem Plastikschild auf der Brusttasche, auf dem sein Name stand. Dieses Schild auf Sörgas weißem Kittel, mit seinem Namen darauf, hat mir den Rest gegeben. Sörga mit seinen Arbeitsklamotten und mit Schild. Er hat im Westen niemals Schwierigkeiten gehabt. Es war mir schleierhaft, wie er in das Verlagsgebäude hatte eindringen können. Er muss den Pförtner irgendwie überzeugt haben. Oder es war schon alles egal. Ich kann es immer noch nicht glauben, klagt Martina, Ich fühle mich eigentlich krank, im Innersten verletzt. Das befreiende Gefühl, wenn es überhaupt richtig angekommen ist, dann vielleicht beim ersten Anblick der gefallenen Mauer, also dem Augenblick, in dem die Leute aus dieser Mauer herausgebrochen sind. Bist du dort gewesen?

Wir haben den Garten durch ein Loch im Zaun hinter den kahlen Fliederbüschen verlassen. Das weite Land tut sich auf und wir gehen auf einem schmalen Sandweg an der Rückseite des Hofes entlang, in Richtung der anderen Höfe.

Die erste Nach habe ich verschlafen, weil ich es nicht begriffen habe. Am Abend war eine Freundin aus Prag da. Du kennst sie nicht. Sie konnten schon immer reisen. Wir saßen in Neukölln in einem Café namens Moskau. Wir tranken Wein. Wir hörten etwas, aber wir glaubten nichts davon. Es klang zu unwahrscheinlich, ein schlechter Scherz. Es gibt tausend Geschichten darüber, dass es nicht zu glauben gewesen wäre. Jemand, der gerade in den USA weilte, soll sich gesagt haben: -typisch die Amis, reden wieder einen Blödsinn-. Vielleicht waren wir auch einfach zu betrunken. Milena rief am nächsten Morgen an und stellte die Sache richtig, da hatte ich es aber schon x Mal in den Nachrichten gehört. Sie sagte Prag sei weiterhin auf der Seite Albaniens und bleibe sozialistisch.

Sehr witzig.

Dann saß ich beim Essen zufällig mit einem Lehrer und einem Tischler an einem Tisch. Wir saßen in einem Restaurant in der Nähe der Mauer. Sie fragten, was ich denn zu diesen Vorgängen sage würde. Plötzlich sprachen alle miteinander.  -Berührt sie das?-

Ja, sehr, ich sei ursprünglich aus der DDR. Das war eine Zeit lang überhaupt kein Thema für mich und plötzlich höre ich mich das sagen und dass ich seit 6 Jahren hier sei. Und sie sagen, das sei noch nicht lange, da wüsste ich alles noch.

Und Sie, frage ich.

Wir sind sehr berührt, das ist selbstverständlich. Nun müssen wir sehen, was daraus werden kann. Ob die Deutsche Bank oder… Ich und Ruth gingen in der Nacht hinüber zum Checkpoint Charlie und sahen, wie die Leute auf der Mauer saßen und tranken, wie sie mit ihren Fäusten auf die hereinfahrenden Trabants schlugen. Manche heulten, manche waren auch vollkommen reglos. Gesichter voller Misstrauen und Angst, auch Wut vielleicht. Und hier auf dem Land? Frage ich.

Hier hat sich scheinbar nichts verändert. Im Verlag auch nicht, bisher. Alle sind noch auf ihren alten Posten. Manche sind wohl aus der Partei ausgetreten. Parteimitglieder haben ihre Kaderakte zum umfrisieren erhalten.

Werden Verantwortliche nicht abgesetzt?

Wer soll das tun?

Du.

Du hast gut reden. Glücklicherweise sagt Martina das lachend.

Ich will damit nicht sagen dass man es nicht machen könnte. Ich denke von mir zwar, dass ich immer mein Bestes getan habe, also mich nicht habe bevormunden lassen, soweit das ging. Aber ich würde mich jetzt auch nicht rächen wollen. Irgendwie haben alle getan, was sie konnten. Und man kann auch nicht sagen, dass dabei keine Literatur herausgekommen wäre. Wir haben gute Sachen verlegt. Vielleicht will keiner die Macht mehr haben, Punkt. Alle sind wahnsinnig geworden, alle Rennen wie wahnsinnig in den Westen. Klar, in den Medien sprechen dieselben Leute jetzt einen anderen Text. In diesem bekannten Ton. Man kann es lustig nehmen. Es ist schwer zu beurteilen, wie soll man herauskommen, alle sind beteiligt gewesen.

Mich stört dieses Volk, sage ich, dass immerzu davon die Rede ist. Ich möchte da nicht mit einbegriffen sein. Du?

Ich glaube man gehört dazu, ob man nun will oder nicht. Klar, du meinst die Vergangenheit dieses Volkes, besonders, wenn es dieses jubelnde Volk ist.

Ja, es ist immer noch da:

 


Irma unsere Mutter hatte alles in unseren Garten gebracht die Nazi Literatur, die sie in ihrer Jugend gelesen hatte, um sie bei Gelegenheit noch einmal zu lesen, um bei Gelegenheit darüber nachzudenken, von einer anderen Position aus, vielleicht, um ihre Jugend zu retten. Sie ist niemals dazu gekommen. Die Bücher standen im Schrank. Ich habe manchmal eines aufgeschlagen, aber nicht lesen können, mich nicht getraut zu lesen, es war klar, sie waren verboten nicht nur verboten sie waren aus der Hölle in unserem Schrank. Sie hatte auch ihren Dolch behalten. Er lag in unserem Garten im Besteckkasten und wurde zum Brotschneiden benutzt. Ich spreche nie darüber. Es ist in meinem Kopf. So sehen unsere dunklen Geheimnisse aus. Sie ging in ihren roten Hackenschuhen zum roten Kleid zu ihren literarischen Abenden mit dem Goethe Band in ihrer großen braunen Tasche. Sie nahm uns zu ihren Freundinnen niemals mit, sie sagte: Wir haben gesungen Wir haben geglaubt was man uns gelehrt hat, wie hätte man nicht daran glauben sollen. Was euch gesagt wird, ist doch nicht wahr, die Arbeiterklasse soll geschlossen antifaschistisch gewesen sein? Aber Nein. Sie hatte ihren verzweifelten Blick. Die ehemalige BDM-Führerin, das Nazi Kind aus dem Hinterhof, das jetzt noch einmal und ordentlich von vorne angefangen hatte. Und deshalb wollte sie, dass wir der Kirche angehörten. Sie sah mit uns in jedem Jahr der Fronleichnamsprozession zu, die an unserem Dreißigerjahre Haus vorbeizog. 2 Jungen von unserem Hof waren dabei, in langen weißen Mänteln mit roten Röcken darunter. Wir sind nicht katholisch, sagte Irma, aber jeder solle seinen Glauben so leben wie er es für richtig halte. Wir verfolgten die Ministranten, um sie aus der Nähe anschauen zu können. Wir wollten an die Spitze des Zuges gelangen, wo in 2 weißen Händen die goldene Monstranz gehalten wurde, mit dem symbolischen Leib des Herrn. Die Prozession bewegte sich über den breiten, für Fahrzeuge gesperrten Fahrdamm um einen grünen Platz herum. Wir liefen unter den Kastanien auf dem Bürgersteig mit. Es war für uns etwas außerordentlich Exotisches. Es war etwas Erlaubtes und gleichzeitig Missbilligtes, was hier geschah, denn es gab keinen Gott. Und Ich fühlte mich sofort ertappt, wenn einer öffentlich und laut sagte, es gibt keinen Gott.

Und mindestens einmal musste dieser Streitpunkt einem Lehrer vorgetragen worden sein. Aber ich kann mir nicht mehr vorstellen wie ein Lehrer vor seiner Klasse steht und sagt es gäbe keinen Gott. Es gäbe wohl Menschen, die da etwas glaubten und man solle sie lassen. Aber ich sagte ja nicht Ich glaubte an Gott. Es war nur herausgekommen, dass ich und meine Schwester die Pflicht hatten zum Religionsunterricht zu gehen, der in einem dunklen Zimmer des Gemeindehauses unter einem schlichten Holzkreuz stattfand. Irma hatte uns dazu gezwungen. Und wir waren all die Jahre eine Gruppe von kaum mehr als fünf Schülerinnen. Fünf einsame Gestalten, die nach dem Unterricht sofort das Weite suchten. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das in unsere Schule ging und das ich von weitem betrachtete, als suchte ich an ihr nach Zeichen des Religionsunterrichtes. Ich fürchtete den ewig freundlichen Blick der Katechetin. Sie hatte gesagt, sie bete überall, mit den Händen unter dem Tisch. Sie scheue sich nicht, sie könne dies auch unauffällig tun. Ich wollte nicht mehr singen Oh Haupt voll Blut und Wunden. Ich wollte nicht unter dem Tisch beten. Obwohl ich das auch ausprobiert hatte. Ich wollte es nicht mehr.

Wie wollten Pioniere werden. Wir hofften, dass sich dann mit uns etwas änderte. Aber wir mussten feststellen, dass sich mit dem Pioniertuch nichts änderte. Mit unserem verspäteten, durch Irma endlich erlaubten Eintritt in diese Organisation änderte sich nichts. Es blieb falsch. Wie viele Sterne und Abzeichen wir auch anlegten. Es gab keinen Ruck und das Land tat sich nicht auf. Und das Feuer, das manchmal am Eingang unserer Schule brannte und von zwei Schülern mit geschulterten Luftgewehren bewacht wurde, erinnerte uns an Irmas verbotene Geschichten. Himmel und Erde waren mit einer dünnen Schicht verschlossen.

 


Wir laufen die Dorfstraße hinauf. Über den Dächern, über den Laternen ein weißer ferner umwölkter Mond. In den Häusern kaum Licht, als würden die meisten der Bewohner schon schlafen. Die Bäume ragen über die Häuser ins Dunkel. Der Bordstein glänzt. Wir laufen am Bordstein entlang, die leere Straße hinauf. Mir ist warm und ich stopfe Haarsträhnen unter meinen Schal. Martina mit dem Grünen Tuch über den Schultern hat ihre Hände in die Ärmel ihrer dicken grauen Windjacke gesteckt.

Du nimmst das zu ernst zu schwer. Deine Mutter war doch sehr jung.

Und deine Eltern?

Mitläufer. Ich habe noch nicht so oft darüber nachgedacht wie du, und jetzt wieder Mitläufer. Mein Vater ist gerade aus der Partei ausgetreten. Er hat eigentlich mit Politik nichts zu tun. Er ist ein praktischer Mensch.

 


Wir stehen vor dem Haus.

 


Ich glaube sie hat irgendwie weiter gemacht, sage ich, nicht engagiert als Nazi, sie hätte mit derartigen neuen Tendenzen nichts zu tun gehabt, aber die alten Freundinnen, die sich weiter trafen zum gemeinsamen Lesen der Ilias, das alte Gruppengefühl, ihre Augen leuchteten, als sie eine alte BDM-Freundin traf. Ich nehme an, sie sprachen nicht mehr davon, sie hatten nur dieses gemeinsame Schweigen über etwas Gemeinsames. Und sie gab uns gegenüber auch die Nazisprache zum Besten. Ohne Not, würde ich sagen und zu Ihrer Putzmanie passend, erklärte sie zu Beispiel, man habe bei einem Staubrest auf dem blank polierten Fußboden -da steht noch ein Jude- gesagt. Ich war, glaube ich, darin geübt über derartiges nicht nachzudenken es zog schnell vorüber, es durfte nicht angeschaut nicht gehört werden. Ich ging einfach darüber hinweg. Vielleicht verstand ich es nicht einmal.

 


Wir gehen ins Haus.

Es war schön, sagt Martina, bevor wir die Dachkammer betreten, die wir von draußen hell erleuchtet gesehen haben. Thomas und Sörga sitzen beim Wein.

Kommt herein hier sind Gläser. Wir haben schon auf euch gewartet.

Martinas Dachkammer in der Sörga übernachten wird. Ich werde auf der gegenüberliegenden Seite schlafen. Ein gelber Lampenschirm hängt über einem dunklen alten Teetisch, über einer Truhe ein Ketten geschmückter Gold gerahmte Spiegel, auf der Erde eine große Tonvase mit einem großen vertrockneten Sommerstrauß, in dem noch ein paar Farben erhalten geblieben sind. Ich setze mich auf die Truhe und trinke Wein. Martina hat sich in einen Korbstuhl gesetzt. Wir sprechen in Martinas Zimmer über Die Unfähigkeit zu trauern und wir hatten also weiterhin dieselben Bücher gelesen. Auch Die zweite Schuld von Giordano. Ich verständige mich mit Martina schnell über feministische Literatur, während Sörga und Thomas dazu schweigen. Martina war fähig diese Texte als Information über sie nicht betreffende Zustände zu lesen. Am Ende in dieser Nacht sagt Martina, ihr seid weggegangen damals.

 


Ich sitze auf einem weichen Federbett unter dem Dach, das Ende der Dachbalken am Ende der Liege. Sie sind mit weißer Leimfarbe gestrichen. Ich kann den Mond sehen, den schwarzen Himmel, in den der Hof des Mondes übergeht. Draußen muss es sehr kalt sein. Hier sind die Heizkörper warm, es ist gemütlich. Ich bin wieder zuhause, überlege ich, bin ich wieder zu Hause? in der Dachkammer gegenüber muss Sörga sich noch an den Tisch gesetzt haben.

 


Sörgas weißhaarige Mutter ist gegenwärtig, wenn er hier ist, hier in diesem Land. Sörgas Mutter und Thomas. Das sind die Anderen, auch wenn es nicht zur Sprache kommt. Er muss an seine Mutter denken und sieht sie vor sich, als würde sie ihm drohen. Sie sitzt vor der Treppe, sie schaut durch die Glasscheiben der Tür, über die Veranda in den Garten, sie schaut aus dem Fenster des hellgrauen Betonhauses. Er hat sie verlassen. Und schlimmer noch, er ist übergelaufen zum Feind. Glücklicherweise habe der Vater das nicht mehr erlebt. Ihn bekümmert ihre Zerbrechlichkeit. Und gerade, als er ging erschien sie ihm wie ein kleines Mädchen, das er verließ.

 


Du hattest noch Licht, sage ich zu Sörga, nachdem er auf mein Klopfzeichen mit einem ja geantwortet hatte. Er setzt sich erwartungsvoll an den Tisch. Die Gläser und Aschenbecher sind vom Tisch geräumt. Er ist abgewischt und glänzt unter dem gelben Lampenschirm. Bis auf eine Flasche, halbvoll mit Rotwein und einem Glas, das Sörga frisch eingeschenkt hat, ist alles verschwunden. Möchtest du noch einen Absacker.

Ich muss lachen, das Wort gehört nicht hierher. Aber ich nicke.

Wir trinken hier zu viel, nach alter Gewohnheit. Sage ich.

Thomas macht mir Sorgen, sagt Sörga.

Es ist komisch, sage ich, ich denke hier vor allem an meine Kindheit, gar nicht, was sonst alles war.

Das ist doch selbstverständlich, sagt Sörga, wir haben etwas ursprüngliches verlassen, unsere Eltern und unser Land.

Ich denke es nie als mein Land. Nein.

Sörga erhebt das Glas. Geht es euch gut?

Ich nicke. Die Kindheit in diesem Land also , ein paar Jahre nach dem Ende des Krieges. Denke ich.



Einmal sahen wir in einem Freizeitlager, in dem wir in den Ferien einige Vormittage verbrachten (verbringen mussten, da alle Eltern berufstätig waren), sahen wir in einem großen, bis zum letzten Platz gefüllten Saal den Thälmann-Film. Bei einer Szene, ich kann mich an die Szene nicht mehr erinnern, nur an das Weinen. Viele weinten still vor sich hin. Ich hörte plötzlich meine Schwester, die nicht neben mir saß, heraus. Sie wurde immer lauter und schriller. Ich glaubte, dass dieses Schreien gespielt war. Später sagte sie, es habe ihr Spaß gemacht, sie habe es plötzlich gekonnt, das Schreien.

Es war ein hysterischer Anfall, sagt Sörger. Ich habe einmal zu ihr gesagt, dass ich finde, dass ihr eine komische Familie seid.

 


Irma ging am Morgen mit ihrem nackten massigen Körper ins Bad um sich kalt zu waschen. Auch sonntags stand sie spätestens um 07:30 Uhr auf. Am Sonntag krochen wir noch schläfrig, weil es früh sein musste, in ihr Bett und legten unsere Füße zwischen ihre großen runden Knie. Wenn sie aufgestanden war blieben wir noch eine Weile in ihrem warmen Bett. Sie kam in einem langen schwarz weißen Bademantel, das Weiße waren Rosen, der einen riesigen Kragen und breite Manschetten hatte, in ihr Zimmer zurück um sich vor einem Stuhl anzuziehen oder im Winter mit einem Kohleneimer, um im Ofen Feuer zu machen . Sie zündete zuerst mittels Papier und Kohlenanzünder eine Handvoll Holz an und Griff dann mit einer schwarzen Zange die Kohlen und warf sie ins Feuer. Sie zog sich in der Ecke vor dem Ofen an. Sie zwängte ihren Körper in ein Korsett mit vielen Haken und Ösen. Immer wieder nahmen wir uns vor Frühsport zu treiben nach einem Frühsport Film den wir im Unterricht gesehen hatten. Ein Mädchen im schwarzen Gymnastik Anzug und mit langem Zopf turnte, nachdem es das Fenster geöffnet hatte, vor diesem Fenster.

Wir schrieben ganze Hefte voller Buchstabenreihen neu ab, weil sie uns nicht ordentlich genug erschienen. Wir wollten eine perfekte Schrift.

Irma kochte Kaffee. Sie schob die Schrippen in den Backofen und wenn die Schrippen zu duften begannen, war es höchste Zeit aufzustehen, Georg zu wecken, sich zu waschen und anzuziehen. Sonntagskleider und Sonntagsschuhe, die Irma heraussuchte. Wenn wir am Frühstückstisch, den wir gedeckt hatten saßen kam Georg aus dem Bad, über seinem Hemd trug er immer einen Schal. Für Georg waren 3 Brötchen bestimmt, für Irma und uns je 2. Wir aßen sie mit Butter und Pflaumenmus. Nach dem Frühstück zog sich Irma ihre Schürze über und stellte sich an den Herd. Beim Kochen hörte sie die Stimme der Kritik und die Galerie des Theaters.

 


Dass du diese Sendungen nicht kennst?

Jedenfalls nicht aus der Kindheit.

Kein Radio Hören beim Kochen?

Jedenfalls nicht das.

 


Sörga will nicht sagen, dass seine Eltern kein Westradio, RIAS oder SFB, hörten. Er spricht es nicht aus.


 

Georg stand vor dem Rundfunkgerät und versuchte den Sender, der mittels Störsender gestört wurde, einigermaßen hörbar einzustellen. Irma hatte mir später erzählt, dass eine der ersten Vokabeln, die ich in meinen Wortschatz aufnahm der Name des damaligen Bundeskanzlers gewesen sei. Der schwarze Apparat mit dem Grünen magischen Auge stand auf einem Schrank in Höhe von Georgs Kopf, der sein Ohr an den Lautsprecher hielt. Sein angespanntes Gesicht verzerrte sich als Georg die Nachricht vom Bau der Mauer hörte. Das war in den großen Ferien. Davor waren wir mit ihm hin und wieder nach Westberlin gefahren. Ich wollte aus dem Kaugummiautomaten eine Kaugummitüte die auch einen kleinen Ringen mit rotem Stein enthielt. In der Bahn durften wir nicht sagen wohin wir fuhren. Zum Ende meines ersten Schuljahres war die Mauer gebaut.

 


In Sörgas erstes Lebensjahr fällt noch der Krieg. Erzählungen von zerbombten Städten und vom Spielen im Schutt zerstörter Häuser.

Und als die Mauer hingebaut wurde?

Habe ich verstanden, dass es aus wirtschaftlichen Gründen geschehen musste. Wie wir alle. Es gibt dagegen nichts zu sagen, erst später fällt auf, dass hier etwas verloren gegangen ist. Bevor es etwas vom Gefängnis hatte, war es noch eine Art Opfer.

 


Wenn der Braten sich in dem großen schwarzen zugedeckten Topf auf dem Gasherd befand, wurde es warm und gemütlich in unserer Küche. Irma setzte sich an den weißen Küchentisch, nahm einen Korb auf den Schoß und schälte Kartoffeln. Wir hörten wie Georg die Wohnungstür leise hinter sich zuzog. Im Winter ging er in den Keller um Holz zu hacken und Kohlen zu holen, im Sommer spazieren. Wenn er damit fertig war kam er in die Küche um das Gemüseglas oder die Büchse mit grünen Bohnen mit einem Schraubenzieher oder einem scharfen Messer zu öffnen. Die Aufgaben unseres Vaters sind mir deutlich in Erinnerung. Es waren wenige und eindeutig männliche. Er wäre beleidigt hatte Irma gesagt, da sie nach ihrem Fernstudium mehr Geld verdiente als er. Sie hatte die so genannte Finanzökonomie im Fernstudium studiert.

Nach dem Essen wusch Irma das Geschirr. Georg ging in sein Zimmer und legte sich hin. Er schlief mit dem Gesicht zur Wand, an der die Ranken einer Grünpflanze die er mit Fäden und Stiften befestigt hatte hingen. Am Nachmittag stopfte Irma Strümpfe und besserte Wäsche aus. Sie nahm sogar mit einem dafür gefertigten kleinen Haken die Laufmaschen ihrer Perlonstrümpfe auf. Wir trockneten ab und stapelten das Geschirr in einen vergilbten Küchenschrank. Wir gossen das abgetropfte Wasser aus der Aluminiumschüssel und wischten die Schüssel trocken, wie Irma uns das gezeigt hatte. Danach wurde der Marmorkuchen aufgeschnitten und das Abendessen verlief ebenso schweigend wie alle anderen Mahlzeiten.

Ich diskutierte mit Georg in seinem Zimmer. Er stand, ich saß auf der Sessellehne. Er stand, weil er wütend war. Ich verteidigte den Sozialismus ich heulte, weil Georg nichts verstehen wollte. Ich sprach von einem Sozialismus der in meinem Kopf existierte, nein von dem, der hier in Worten existierte und deshalb in meinem Kopf war. Georg hatte derartige Ideen niemals in seinem Kopf. Er war dagegen. Aber ich verteidigte den Staat nur vor Georg, sonst nicht. Georg wollte es nicht hören. Georg war nicht in der Gewerkschaft, was selten war und was er sich scheinbar leisten konnte, er ging nie zur Wahl, nie zu den Maidemonstrationen, er trat aus der Kirche aus. Ihn hatten alle enttäuscht. Er war mit allem fertig. ich musste Georg Leben entgegensetzen. Es gab Literatur als Nahrung für dieses Leben. Manchmal nur im Lesesaal der Staatsbibliothek erhältliche. Es gab auch Bücher, die man selbstverständlich nur zu Zwecken wissenschaftliche Arbeit ausleihen durfte.

Sörga sagt, daran denke heute niemand mehr. Wir müssten uns um unsere Liebe und unsere Umwelt kümmern.

 


Als Georg alt war, sage ich zu Sörga, als ich ihm beizubringen versuchte dass wir in den Westen gehen würden, sagte er die Deutschen seien selbst schuld, mit ihrer Hilfe sei Lenin damals aus der Schweiz nach Russland gekommen.

Ein Mensch aus einer vergangenen Zeit, der ein Ereignis anspricht als wäre darüber noch zu diskutieren. Ich konnte ihn nicht um Verzeihung bitten, dafür dass ich ihn hier zurücklassen würde. Er sagte, 6 Lebensjahre hat mich der Krieg gekostet. Ich sagte ihm nicht, wie leid es mir täte, ich konnte nichts mehr sagen. Ich konnte, was er sagte nicht mehr auseinander nehmen. Unsere lange Diskussion war abgeschlossen. Wir gingen und er blieb. Wo er von Anfang an hatte weggehen wollen. 

Vielleicht war Georg zu alt für uns als dass wir ihn hätten verstehen können,  sage ich zu Sörga. Ich meine damit nicht einordnen, sondern nachfühlen.

Vielleicht ist die politische Gesinnung beliebig, zufällig, wie die Leute die man gerade kennenlernt, die Umgebung in die man hineingeboren wird und es dauert lange bis man darüber nachdenkt und vielleicht kommt es nie dazu und irgendwann bleibt nur noch das Fossil einer längst vergangenen Diskussion zurück.

Mit Georg habe ich Mitleid mit Irma nicht, sage ich, sie kam zurecht, sie wollte nie in den Westen, weil es dort Arbeitslosigkeit gab.

Er lebte mit seinem Sparkonto, er prüfte die Kontoauszüge, er arbeitete bis zu seinem 70. Lebensjahr. Er fuhr zur Messe, er saß im Büro, zum Schluss ordnete er Akten in einem Archiv. Er sparte am Essen, wo auch sonst. Wir durften keine Scheibe Wurst ohne Brot essen. Er kaufte von allem das billigste das kümmerlichste. Dann aber durfte es wieder kein Armeleute-Essen geben, keinen Hering, keine Linsen, nicht so viel Kartoffeln. Er gebrauchte diese Worte. Wir sahen keine armen Leute. Er besuchte seine Schwiegermutter nie, eine Vertreterin der Arbeiterklasse. Wir zogen zu seiner Mutter in die Fünfzimmerwohnung mit Parkettfußboden, in der sie bis dahin gezwungenermaßen zur Untermiete gewohnt hatte. Wenn seine Schwiegermutter, unsere zweite Großmutter, zu Besuch kam wurde sie von beiden mit Geringschätzung behandelt. Die Wohnung mit Blick auf den Pfarrgarten war eine der Wohnungen seiner Kindheit, das Eigentum seiner Familie, auch wenn er selbst keinen Anteil daran hatte. Als unsere Großmutter gestorben war, zog Irma in das Zimmer der Großmutter um, weil es dort ruhiger wäre und Ruth und ich, wir bekamen jede ein eigenes Zimmer. Irma nahm das Klavier zu sich, auf dem Georg seit einiger Zeit nicht mehr spielen wollte und fing an Klavier zu üben.  

 


Der Mond steht hinter einem Schornstein so nah als wäre er dort aufgehängt.

Wir werden auch bald zur Vergangenheit gehören, sagt Sörga. Aber ist es nicht wunderbar dass wir hier sein können. Daß wir uns alle hier wiedersehen, dass wir uns immer wieder hier treffen werden, dass das alles selbstverständlich werden wird. Es wird alles gut und wir brauchen keine Feindschaft mehr. Auch Mann und Frau müssen sich wieder vertragen.

Ich gehe über die dunklen Dielen in mein Zimmer. An der Decke hängt aufgerollt eine alte Kinderschaukel.

Ich werde nicht schlafen können. Ich fühle mich erleichtert, traurig und schlaflos. Alles um mich herum ist weich. Mein Körper ist vorhanden, die Wärme der Decke, das Mondlicht auf meiner Stirn. Mann und Frau müssen sich wieder vertragen. Ich muss ein wenig schmunzeln. Der Himmel ist vollkommen vereist. Die Wolken sind zu Eis geworden. Ich träume, dass Frauen in flämischer Tracht sich auf Schlittschuhen in diesem Eis fortbewegen. Ich schlafe. Sörga liegt wach in seinem Bett.

 


Über dem Küchentisch am Fenster hängt in den Händen von Sörgas Mutter die Zeitung. Sie hält sie hoch, um auch die unteren Überschriften zu lesen bevor sie umblättert. Die Wohnung ist überheizt. Die Mutter trägt eine weiße Spitzenbluse. Es könnte Sommer sein. Sie steht an der Tür. Hinter den Augengläsern sind ihre Augen kaum zu erkennen. Sie hat den Unterarm auf die Klinke gestützt. Sörga hat plötzlich vor der Tür gestanden. Sie kommt ihm ein Stück entgegen, geht aber nicht zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. Sie kommt aus der Tür, um zu schauen wer da sei. Es ist Sörga. Er steht dicht vor ihr. Sie erkennt ihn an der Form seiner Wange und dem wenig geöffneten erschrockenen Mund. Sie bittet ihn einzutreten. Sörga kennt die Wohnung noch nicht im größten Neubaugebiet der Stadt. Es ist eine warme Wohnung, eingetauscht gegen eine Wohnung mit Ofenheizung. Sörga hat eine Zeit gebraucht, das Haus zu finden. Als er es gefunden hatte, war er mit seiner Bestürzung am Ende. Er hatte sich gesagt, einer dieser Eingänge in den grauen immer gleichen Beton muss es unweigerlich sein.

Ihr Gesicht ist aufmerksam dem Nachrichtensprecher zugewandt. Sie sitzt zu dem Fernsehgerät genau parallel. Sie allein. Sörgas Anwesenheit scheint nicht der Rede wert. Sie gleicht einer Statue. Aus dem Fenster sieht Sörga die Kaufhalle zu der sie jeden Tag hinübergehen muss. In der Zeit, als sie noch in der Vorstadt wohnten, als es noch keine Fernseher gab, als er loslief aus dem alten Holzhaus mit einem warmen Geldstück in der Hand und einen langen Weg zurück legte, um sich eine Tüte Bonbons zu kaufen, kannte er nur diese eine Sorte, die der Krämer mit einer Zange aus einem hohen Glas nahm. Es waren die besten. Sie erhebt sich lächelnd aus ihrem Stuhl. Sie hat ihr Lächeln wiedergefunden. Und ihre Stimme. Komm, dann werden wir jetzt schön Kaffee trinken. Sie geht in die winzige Küche, die genau an das Zimmer anschließt. Sie hält den alten runden Kessel unter den Wasserstrahl. Die wichtigen Bewegungen haben sich erhalten, die Bewegungen beim Einfüllen des Wassers, beim Öffnen der Schranktüren, beim Herausnehmen der Teller und Tassen und Aufstellen auf das Tablett, beim Anheben und Hereintragen des Tabletts. Die Bewegungen sind in ihrer Schönheit erhalten geblieben. Du warst nicht ganz so heldenhaft wie die Partisanen, hatte er sich als Schüler gedacht. Sie hatte Widerstand geleistet, das war amtlich, aber weniger als in den cineastischen Werken zu sehen gewesen war. Sie zählt plötzlich den Kaiser auf und Hitler und Stalin und Breschnew (dass Stalin ohne Verzögerung schon dabei ist?), die sie nun alle überstanden habe. Die abschließenden Namen sind also Stalin und Breschnew, schon bei den ersten Anzeichen des Zusammenbruchs stehen sie fest. Zusammengebrochene Systeme werden als Albträume abgestreift. Sie holt unten aus dem Schrank eine Schüssel mit Gebäck. Sie trägt das Tablett in die Stube, die nicht mehr die Stube ist. Dafür sind die Wände zu dünn, scheint alles zu zerbrechlich, ist alles viel zu klein und nur noch die allernötigsten Dinge haben hier Platz.

Aber ich brauche nur noch das allernötigste, sagt sie. Das Zimmer ist vollgestellt mit ihrem halben Ehebett und einem tiefen Kleiderschrank. Nur dieser winzige Platz vor dem Bücherregal, das Sörga ihr aufgezwungen hat, weil er Menschen ohne Bücher nicht ausstehen kann, ist angenehm, sie sitzt dort und liest.

Natürlich haben wir auch eine Mitschuld an diesem System wie es geworden ist, sagt sie, auch sie habe zu vielem geschwiegen.

Würdest du aus der Partei austreten, fragt Sörger mit seinem Kuchenteller über den Tisch gebeugt.

Sie ist in den Sessel zurückgelehnt. Es würde nicht zu ihr passen. Es würde lächerlich wirken.

Bei euch gibt es diese Partei auch, aber sie hat keine Bedeutung?

Eine leichte Erregung, die Sörger berührt hat sie ergriffen.

0,0 Prozent, sagt er.

Sie steht vor dem Spiegel mit einem Kamm in der Hand. Sie legt den Kamm wieder Weg. Sörga schüttet die Kekskrümel auf einen Teller.

Und dann kommen die Faschisten wieder hoch.

Das ist ein Standardsatz. Er bringt das Geschirr auf dem Tablett zur Küche hinüber und schüttet die Krümel in den verrosteten Mülleimer, den er im Schrank unter der Spüle gefunden hat.

Wir sollten an die frische Luft gehen, sagt Sörga, du zeigst mir ein bisschen die Gegend hier.

Draußen wird das Licht bereits fahl. In den Fenstern stehen die erzgebirgischen Kerzenbögen.

Sie sagt, mich kennt niemand hier. Aber draußen in der Vorstadt, wo sich alle kennen, da gäbe es plötzlich Feindschaft und Morddrohungen sogar. Aber hier sind alles anständige Leute.

Das Wort anständig bedeutet in Sörgas Ohren spießig. 

Ich habe eine junge Frau kennengelernt, mit zwei kleinen Kindern, allein und berufstätig, sagt Sörgas Mutter. Sie wohnt dort hinter der Schule.

Auf den Fenstern der Schule steht in weißen Buchstaben Frieden und Freundschaft. Was sonst. Die Schule ist Grün und Rostrot gestrichen.

Wo steht dein Auto, fragt sie.

Sörga zeigt es ihr. Er sagt: Die Schule ist ein großer Sprachzerstörer gewesen. Wir können nur hoffen, dass das jetzt endlich vorbei ist. Und die Schulspeisung war ungenießbar.

Nun ja, ein Fortschritt war es doch schon. Ich konnte nicht lange zu Schule gehen, es war ja nicht möglich, sagt sie.

Aber daran ist heute nichts Besonderes mehr. Überall in Europa gehen die Kinder zur Schule. Natürlich gibt es auch Schulen, die etwas kosten.

Sie lächelt. Sie fühlt sich bestätigt. Das gefällt Sörga.

Über den grauen Betonklötzen in gleichmäßiger Höhe ist der Himmel weit. Sie stehen auf der Fernverkehrsstraße. Dahinter gelangt man auf einen schmalen Pfad an ein Gewässer. Dicke Fernheizungsrohre führen am Weg entlang. Die Landschaft erscheint Sörga wie auf einem Bild von Wolfgang Mattheuer. Er betrachtet sie, wie sie mit auf dem Rücken verschränkten Händen nickt. Sie betrachtet alles wohlwollend mit auf dem Rücken verschränkten großen Händen.

Erinnerst du dich an das Fließ mit den Brombeersträuchern auf der Böschung, fragt er.

Es befand sich in der Nähe des Holzhauses, in dem sie gewohnt hatten und aus dem sie dann ausgezogen war.

Es wäre nicht weit dorthin zu fahren.

Sie lächelt in sich hinein.

Ich glaube, ich würde sogar die Grashalme wiedererkennen und die Pfützen auf den Sandwegen, sagt Sörga.

Sie kehren wieder um. Das große Betonprojekt, das nun von der Regierung nicht einmal zu Ende geführt werden konnte erscheint Sörga wie eine Kulisse, in der die Leute den Film weiterspielen müssen.

Sie gehen in die Kaufhalle, weil Sörga die Kaufhalle besichtigen will.

Am Gemüsestand kauft er Zitronen. Er betont seine Gesten und seine Freundlichkeit. Es fällt ihm leicht, den freundlichen Gesichtsausdruck zu halten. Er ist frei. In einem Regal sieht er eine lange Reihe Margarinebecher, der von ihm ehemals verzehrten Margarine stehen. Er hatte sie vergessen. An der Kasse steht seine Mutter vor ihm mit der Geldbörse in der Hand und hilft gleichzeitig der Verkäuferin die Zitronen, die Milch in dem Plastikschlauch und die Wurst, nach der sie am Wurststand angestanden hat, aus ihrem Einkaufswagen in den vor ihr stehenden leeren Einkaufswagen zu legen. Ein Vorgang, den Sörga ebenfalls vergessen hatte. Als sie vor die Kaufhalle getreten sind, bleibt ein Aufblitzen der Einkaufswagen in der Dunkelheit. Die Luft hat einen seltsamen Geruch, der alles zusammenbindet und Sörga langsam aufs Gemüt schlägt. Er denkt, es ist ein Geruch aus Abgasen und den Seifen und Waschmitteln, die hier verwendet werden. Er passt sich spazierend, ein wenig in innerer Eile, dem Schritt seiner Mutter an. Er sieht den Sternenhimmel. Laternen scheinen auf das staubig wirkende Gras. Sie legen ihre Hände auf das Dach seines Autos.

Sörgas Mutter schaut aus dem Fenster. Sie hat einen sanften, einen zurückweichenden Blick. Die Zitronen leuchten auf dem Tisch.

Die Zitronen gab es doch immer, sagt Sörga, Zitronen waren nie ein Engpass in der Versorgung.

Die Mutter richtet das Abendbrot. Ein frischer Lufthauch dringt durch die Ritzen des Fensters, das einen lächerlich winzigen Haken zur Öffnung hat. Sörga wäscht sich im fensterlosen Badezimmer die Hände. Tatsächlich hatte man Künstlern wie Thomas Wohnungen hier angeboten. Um sie aus der Innenstadt abzuziehen? Da hatten sie sich lieber aufs Land zurückgezogen. Bei seiner Mutter war das etwas anderes. Sie schien zufrieden mit dem Neubau. Sie hat die gelbe Baumwollgardine zugezogen. Er befühlt mit seinen Händen das Holz des Tisches, der sich also über die Jahre erhalten hat. Er schlief als Kind in der Nähe dieses Tisches, dieser Tischbeine.

Er wartet, dass seine Mutter sich setzt und mit ihm zu Abend isst. Er stellt sich seine Eltern nicht als Schuldige vor. Nur ein Unbehagen ist da, eher bezüglich seines Vaters, der ein sogenannter strammer Genosse gewesen war, es könne sich doch irgendetwas herausstellen. Von der Gestapo geschlagen, hatte seine Mutter gesagt. Mehr nicht. Sie sprachen nicht darüber. Gefühle wurden sowieso nicht gezeigt. Sie eigneten sich ein Bewusstsein der Überlegenheit an. Das genügte. Er hatte das Lachen eines Blinden, wenn er behauptete es gäbe keine politische Verfolgung in seinem sozialistischen Land. Wahrscheinlich hatte sich keiner dieser jungen Revolutionäre je vorstellen können, dass es eines Tages nötig sein würde, die gesamte Bevölkerung zu internieren. Sörgas Mutter war seine ihn umsorgende und in ihrer Sorge etwas überhebliche Frau. Sie essen. Sie sagt, sie würde schon gerne mit seinem Auto zu diesen Brombeersträuchern fahren, das sei ja ein herrschaftliches Auto. Er ist sich mit ihr einig. Und jedenfalls wird niemand das antasten können, das Kostbarste, ihren Antifaschismus. Sie werden vielleicht diese Geste der Aufklärung betreiben. Den Antifaschisten unter die Lupe nehmen, denkt Sörga und sich selbst nebenbei entschulden. Dann fahren wir also morgen hinaus, sagt Sörga.

 


Thomas und Martina verabschieden sich voneinander, eine verwischte Verabschiedung, als wären sie einander gerade zufällig und erstaunt begegnet. Ich gebe Thomas und Sörga meine Hand und wünsche ihnen eine gute Zeit. Ich steige in das Auto ein, das Martina durch die DDR lenken wird. Der leise Wind tut mir gut. Mir ist schlecht, weil ich gestern Abend noch mit Sörga zu viel Alkohol getrunken habe. In meinem Kopf befindet sich ein leerer Himmel. Menschen erscheinen langsam und einzeln am Horizont. Die Landschaft, große Äcker, dreht sich auf Straßenkreuzen um uns herum. An ihren Spitzen die Dörfer und die Kirchtürme. Die Äcker verbraucht und ausgelaugt, ein Stück unserer russischen Seele, sagt Martina. Ich habe diesen Film mit den riesigen Kornfeldern im Kopf, wo die Bäuerin so wunderbar sagt, das Korn schmecke nach Öl oder Benzin.

Maslo, sage ich.

Martina fährt ihr schepperndes Auto, das auf dem Lande sein muss, aber sonst ohne Bedeutung ist. Eine Heizung muss schon sein und fließendes Wasser. Aber die Hauptsache ist das Land, ein Haus auf dem Land. Die Felder und der Feldrand mit Kornblumen und Mohn und Kamillen. Ich glaube, dass es mehr als diese hoffnungsvollen Anfänge nicht gibt, sagt Martina. Wir standen hier glücklich in den leeren Zimmern und nahmen uns vor, etwas einzurichten, etwas einzubauen. Keine enge Zweizimmerwohnung mehr, sondern Räume und Ausblicke.

Alles sieht plötzlich verfallen aus, sagt Martina, dabei war es schon immer so.

Wir fahren über Potsdam nach Westberlin. Ich würde staunen wie schnell das jetzt gehe, sagt sie. Westberlin stürzt auf uns ein wie ein bunte Scherbe.

Ich hatte keine sinnliche Erfahrung davon, sage ich. Ich habe hier eine sinnliche Erfahrung gemacht, die mir vorher unbekannt war.

Martina schaut mich kurz an, Sie weiß nicht, was ich meine. Ich habe keine Lust, es weiter auszuführen. Martina fährt mich nach Hause, bevor sie nach Ostberlin weiterfährt zur Arbeit. Alles ist aufgewühlt, undeutlich und irgendwie schmerzhaft. Ich stehe ungeduldig im Fahrstuhl. Ich schließe die Wohnungstür auf und sehe die Staubflocken auf dem grauen Linoleum und mein verstaubtes Telefon auf dem Fußboden, auf das ich stolz war, weil die Wartezeit nur sechs Wochen betrug, während unsere Generation in der DDR mehrere Jahre warten musste, wenn man überhaupt für ein Telefon infrage kam. Meine Küche ist weiß und hell. Zum Glück waren die Küchenmöbel weiß, als ich einzog. Ich koche Kaffee und setze mich an den Tisch. Die Leute hier kriegen scheinbar nur am Rande mit oder überhaupt nicht, was gerade passiert.







Kapitel IV




Ruth eilt durch die Straßen und blickt zaghaft in die fremden Gesichter. Die Entgegenkommenden halten ihre Köpfe gegen den Wind. Im U-Bahnlicht gibt es die Gelegenheit die anderen näher zu betrachten. Wer eine Tüte Apfelsinen trägt ist schon erwischt. Eine ältere Frau verschenkt plötzlich an 2 junge Männer die Sportseiten ihrer Morgenpost, die sie an sich nehmen und durchblättern. Ruth versucht sich zwischen den verschiedenen Schuhen (an den Schuhen soll man ja die Herkunft erkennen) auf den Fußboden zu konzentrieren. Hin und wieder hört sie die vertraute sächsische Mundart, der sie mit Blicken nicht mehr folgen will. Aber dieses zwanghafte Identifizieren von DDR-Bürgern ist kaum zu unterdrücken. Die Wut in den überfüllten U-Bahnen wird in Ernst und Aufgeklärtheit umgewandelt. Ernste Menschen weisen solche zurecht die nicht an sich halten können oder betrunken sind. Ruth liest die Tageszeitung. Die Nachrichten überschlagen sich weiterhin. Ruth fährt bis zur Endstation. Auf der Treppe zur Straße hinunter will sie schneller als die anderen vorwärtskommen, was nicht möglich ist. Die Sirenen der Rettungswagen scheinen jetzt noch öfter als sonst zu ertönen. An der bunten Ecke mit Körben voller Handtücher und Unterwäsche hört Ruth das Flügelschlagen des Hubschraubers. Es wird ihr schlecht beim Anblick versammelter Zuschauer und der Ahnung, dass in ihrer Mitte jemand verunglückt auf dem Pflaster liegt. Es ist eine Schwäche, die kurz unter den Knien beginnt. Ruth läuft über die Brücke, die nun Kreuzberg mit Friedrichshain verbindet. Fraglos kann sie die ganze Stadt begehen. Kaum, dass sie ihren Ausweis an der Grenze vorgezeigt hat befindet sie sich immer wieder in derselben Stadt und versucht mit ihren Füßen die Grenze zu verwischen und das gemeinsame Pflaster zusammenzutrommeln. Mittlerweile ist es Weihnachten und sie steht in Ostberlin vor der Lampenfabrik, die sie einst von Georgs Wohnzimmerfenster aus sehen konnte, rötlicher Backstein über den Schienensträngen der S Bahn. Sie schaut zu dem Wohnhaus hinauf. Das ehemalige Wohnzimmerfenster hängt blind in der Ferne, die Gegenwart zerrinnt so schnell wie noch nie. Der Weg zur Straßenbahn durch eine Grünanlage ist den Füßen bekannt und kann automatisch genommen werden. Und an der Straßenbahn findet sich im letzten Moment ein grüner Knopf zum Tür öffnen. Der Tag ist hell und unerwartet schön.

 


Ich treffe meine Schwester vor dem Haus in dem Roxanne wohnt. Sie schaut zu den Fenstern hinauf. Das Haus ist neu mit einer braunen Fassade. Neue Eckhäuser zu beiden Seiten der Warschauer Straße. Im Erdgeschoss befindet sich ein Café.

Ich kann nicht erkennen welches ihre Fenster sind, sagt Ruth. Ich habe Schiss zu klingeln.

Leonore hatte vor 2 oder 3 Jahren dieses Neubauatelier mit Wohnung vom Künstlerverband zugeteilt bekommen.

Soll ich tatsächlich in eine neue Wohnung ziehen? Es ist wahr dass ich endlich an der Reihe bin, eine richtige Wohnung beziehen zu dürfen und nun weiß ich nicht mehr ob ich sie überhaupt will. Nur der Heizung wegen . Ich habe erstmal die Tapete übermalt.

Das Atelier ist bereits wieder konfisziert. Roxanne ist ratlos. Die Malerin, die jetzt tot ist, interessiert nicht mehr. Sie hat genug Schwierigkeiten gemacht diese Frau mit den feministischen Allüren. Die Tochter soll so schnell wie möglich aus der Wohnung verschwinden, man hat ihr eine hohe Miete angedroht, man würde ihr aber bei der Suche nach einer anderen Wohnung behilflich sein.

Leonore ist tot nur wenige Wochen vor all diesen Veränderungen ist sie an einem Karzinom gestorben und es war wiederum so viel Zeit, dass sie nicht einmal mehr eine Ahnung des bevorstehenden erreichte. Sie starb in einer völlig anderen Zeit. Zu ihrer Beerdigung durften wir in die DDR nicht einreisen. Die Kranke durften wir schon gar nicht besuchen, bis auf Linda der von Anfang an, wie allen Kindern, das Land nicht verboten worden war. Dennoch hatten wir es versucht:

 


Wir stehen in der Baracke des Besucherbüros. Hinter den Tischen sitzen Männer in braunen Anzügen, die, als ich vor zwei Wochen meinen Antrag abgab, die Schriftzeichen nachzogen. Jetzt sehe ich schon an der Farbe der Benachrichtigung, dass ich eine Ablehnung erhalte und ich merke, dass ich doch gehofft hatte, obwohl ich mir gesagt hatte, es werde sowieso nicht klappen. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich mich lange nicht beruhigen kann. Wir gehen zu Fuß nach Hause zurück.

Du hast es doch gewusst du hast es doch nicht anders erwartet, sagt Ruth.

Am Morgen bevor Linda zu Leonores Beisetzung geht, frühstücken wir zusammen. Ruth heult beim Anblick des Grabstraußes: Rosen, Anemonen, Astern. Wir ziehen Linda den schwarzen Mantel und Ruths schwarze Stiefel an. Das Begräbnis ist evangelisch. Keiner von Leonores Künstlerkollegen ergreift an ihrem Grab das Wort (also sitze ich unter dem Tisch.) Einige sind gekommen.



Wir klingeln. Roxanne meldet sich über die Sprechanlage. Wir gehen ins Haus und finden den Fahrstuhl nicht, der, wie sich dann herausstellt, über einen Gang zu erreichen ist. Ein Fahrstuhl für 2 Aufgänge. Wir laufen langsam die Treppe hinauf zum siebten Stockwerk. Ruth sagt dass ihr heiß sei und dass sie Angst habe. Wir umarmen Roxanne. Wir sehen zum ersten Mal die Zimmer in denen Leonore zuletzt gewesen ist, die neue Wohnung. An der Tür hängt ihr letztes Passfoto. Ich schaue es nicht an. Roxanne rührt Zucker in den Tee mit dieser Bewegung, die auch ihre Mutter ausführte, als würde sie jedes einzelne Kristall berühren.

Es ist schön, hatte Ruth oft gesagt, in dicken Stiefeln und im dicken Pullover mit Leonore zusammen durch das Dorf zu gehen, zum Acker hinaus, als habe sie endlich Boden unter die Füße bekommen. Damals als sie mit Linda zu Leonore und Roxanne aufs Land gezogen war, mit einem Verlagsstipendium, um ihr Buch zu Ende zu schreiben, das dann mit einem Bild von Leonore auf dem Umschlag erschienen ist.

Sie trug meistens einen grünen Schal, sagt Ruth, in ihrer Kleidung fehlte nie etwas Grünes.

Plötzlich ist das ehemalige Staatsoberhaupt ein Hochverräter, plötzlich werden schwarz rot gelbe Fahnen ohne Emblem geschwenkt und alle finden den Kapitalismus toll. Jedenfalls wird es gesagt, muss es scheinbar gesagt werden.

Roxanne sagt: Ich sitze vor den Nachrichten vor den Beiträgen und Diskussionen, jemand näht mir den Kopf zu.

Das Zimmer ist schön. Mit der alten Kommode, Leonores Bildern und Regalen. Es ist der bekannte einmalige Ort, als Miniatur. Wir treten auf den Balkon und schauen auf die Bersarin-Straße, auf die roten Ziegeldächer. Der Himmel glänzt über einer Kirchturmspitze. Das Land scheint immer noch abgeriegelt. Die Straßenzüge scheinen in sich geschlossen. Das Land befindet sich zwischen den hohen schwarzgrauen Fassaden. Die Fassaden haben immer noch den undurchdringlichen schwarzen Hintergrund unserer Erinnerung an die Mauer. Wir hören, dass Ceausescu und seine Frau am Vortag hingerichtet worden seien. Irgendwie bezweifeln wir, dass das in Ordnung ist. Ein Abgrund der Zwischenzeit ist geöffnet. Roxanne sieht müde aus. Jemand will einen Film über Leonore machen und will die Stasiakte von ihr sehen. Roxanne hat Akteneinsicht beantragt.

 


Gut das Leonore wenigstens in Frankreich war, sagt Roxanne, die niemals mitreisen durfte. Kinder blieben als Pfand zu Hause.

Dann sitzen wir im Zug am Fenster, hatte Leonore gesagt, und schauen auf eine Mondlandschaft mit Zäunen und Stacheldraht und weißen Mauern und Wachturm, da fahren wir denn freiwillig wieder hinein mit einem Kloß im Hals. Und dann haben wir es schnell wieder übergangen.

 


Wir haben geträumt das Land existiere nicht so, nicht in dieser Form des Gefängnisses. Nur Reisende aus sehr fernen Ländern, die nicht begreifen konnten, dass es uns verboten, dass es uns nicht möglich war, zum Beispiel nach Westberlin zu fahren, die dann immer weiter nicht glauben wollten, dass sie richtig verstanden hatten, verstörten uns, rührten taktlos und Kopf schüttelnd und ungläubig lächelnd an den wunden Punkt, bei dem man vor Scham versinken wollte.

 


Am Telefon, als Leonore Ruht in West-Berlin anruft, sagt sie:

Ich muss lernen zu sagen dass es mir schlecht geht, dass ich tagelang gelähmt bin und nicht malen kann. 

Ruth kann sich Leonore nicht kraftlos vorstellen. All der Bilder wegen. Madonnen, Mütter, Kinder Liebespaare, Städte, Jünglinge, Frauen, alles was Leonore auffiel, alles was gerade blühte.

Du also auch, sagt Ruth ins Telefon, ich habe nicht gewusst dass du auch so gelähmt sein kannst, aber du meinst doch nicht unglücklich.

Ich merke, dass ich ziemlich allein bin, eigentlich allein.

Was hast du zu Silvester gemacht?

Ich habe auf 2 kleine Kinder aufgepasst. Ich kann mich nicht mehr um Männer kümmern, ich muss malen, so viel Zeit habe ich auch nicht mehr. Ich schreibe dir wieder ich fange an dir wieder zu schreiben.

 


Sollte das eine Andeutung gewesen, sein so viel Zeit habe sie auch nicht mehr, die Ruth nicht verstehen konnte, denn Leonore würde sehr alt werden, etwas anderes wurde nie für möglich gehalten.

Es kann zu dieser Zeit noch keine Andeutung gewesen sein, sagt Roxanne.

Ich schreibe dir wieder, aber dann schrieb sie nur ein paar Mal, was nicht ungewöhnlich war und dann konnte sie nicht mehr schreiben und in der neuen Wohnung, dieseer Wohnung, hatte Leonore kein Telefon.

Manchmal war es als wolle sie sich zwingen, mit Frauen zusammenzuarbeiten oder Frauen zu lieben, weil sie feministisch sein wollte. Aber damals in N. lief eine von uns beiden immer weg. Es hatte sich eingependelt, dass immer nur eine von uns beiden in N. war. Sagt Ruth.

Es hat nicht geklappt, sagt Roxanne. Auch sie könne mit Frauen zusammen nichts machen. Die seien immer mit Männern beschäftigt.

Es ging eben nur so wie es ging. Es war schon richtig, hatte Leonore eines Nachmittags gesagt, es konnte nicht anders verlaufen. Manchmal verlangt frau zu viel.

Als wir uns trennten, wenn ich es so sehen will, meint Ruth, hat sie mir noch gesagt wie sie sofort die Ähnlichkeit zwischen mir und der Mutter von Rolf erkannt haben will, als sie uns bei Rolfs Eltern auf dem Lande besucht hatte. Ich war darüber gekränkt. Aber wir haben uns wenigstens einmal in Westberlin getroffen: Leonore hat zum Geburtstag ihrer Tante ein Visum für ein paar Tage West-Berlin. Sie wohnt bei einem schwulen Freund und hat schon mehrmals angerufen und dann gesagt:

Warum schieben wir das denn immerzu vor uns her.

Ruth war gerade dabei, ihre Wohnung zu tapezieren.

Ich bin der Meinung, dass wir uns jetzt gleich treffen. Komm, wir treffen uns jetzt gleich.

Und Ruth stellt den Leimpinsel ins Wasser, eilt zur U-Bahn und fährt nach Schöneberg.

Leonore öffnet ihr in einem roten Pullover. Der Freund hat ihr die Haare bis unter das Kind abgeschnitten. Er ist nicht da. Leonore findet sich in der Wohnung zurecht. An den Wänden hängen ihre Bilder. Sie umarmen einander und die Freude ist groß. Leonore sieht für einen Moment etwas verunsichert aus.

Sie hat diesen roten Pullover an und ein blaues Tuch um den Hals. Sie hat den Tisch gedeckt und gerade Kaffee gebrüht. Sie sitzen in der Küche an einem runden Holztisch auf dem Fensterbrett Kakteen die aus Marokko mitgebracht sind. Und Ruth erzählt von einer Selbsterfahrungsgruppe, von Mütterbildern, die dort zum Vorschein gekommen seien und dass es interessant gewesen sei, dass diese eine Rolle spielten bezüglich der Sympathie, die sie für die jeweiligen Gruppenmitglieder empfunden habe. Daraufhin sagt Leonore das von der Ähnlichkeit mit Rolfs Mutter, als müsste sie das unbedingt loswerden.

Nach all den Jahren sagst du mir das.

Sie erzählt von einem Mann, auf den sie an einem Strand in Bulgarien liegend getroffen sei. Er lächelte mich freundlich an und nickte mir zu, er kam jeden Tag zur selben Zeit und legte sich in meine Nähe. Es war ganz selbstverständlich und strengte überhaupt nicht an. Es ist schön jemanden zu beobachten, der sein Gesicht in die Sonne hält. Aber Wir haben nicht miteinander gesprochen. Es war scheinbar klar, dass keiner die Sprache des anderen spricht, ich nicht Bulgarisch und er nicht Deutsch und weder er noch ich haben den Versuch gemacht, uns in einer anderen Sprache zu verständigen. Aber er legte sich jeden Tag ein Stück von mir entfernt in den Sand und nach einer Weile erhob er sich ebenfalls. Wenn ich vom Strand wegging, begleitete mich ein Stück und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Es ist nichts weiter geschehen. Langweilt es dich?

Nein es langweilt mich ganz und gar nicht, es ist schön.

Leonore sagt: Ich habe gestern eine richtige Feministin kennengelernt. Sie wird über mich schreiben über die neuen Bilder: „Frauen“, "Sah ein Knab ein Röslein stehen“, das Gedicht ist doch wohl unmissverständlich. Frage im Deutschunterricht: warum hat Faust das Gretchen sitzenlassen Antwort: es ist der Freiheit wegen geschehen, es ist nicht ganz so einfach zu verstehen, wir müssen versuchen, das zu akzeptieren, um der Freiheit Willen. Ist dir das im sozialistischen Unterricht auch so untergekommen?

Sie ist meine Freundin geworden, sagt Leonore. Das erste Mal nach langer Zeit, dass ich nicht nach einer halben Stunde höre, aber Ich bin gegen die radikalen Feministinnen mit diesem plötzlich stechenden Augenausdruck.

Der Mieter dieser Wohnung, den Ruth kennt, mit dem sie sich schon getroffen hat in dieser Wohnung, Leonores wegen, lädt sie am Abend zum Griechen ein. Sie essen Lammkoteletts, von denen Leonore begeistert ist. Er sagt, er habe keine Angst vor AIDS, man könne sich schützen.

 

Ruth sagt. Wir müssen Roxanne beschützen.

Sie sagt, es sei alles sowieso sinnlos. Sie darf das nicht sagen. Sie ist noch so jung.

 

Wir stehen auf der Straße herum, gehen die Straße entlang, die wir sehr gut kennen. Haben wir das überhaupt untereinander geklärt ?

Als ich wegging, habe ich denn mit irgendjemandem geklärt ich würde ihn nie mehr wiedersehen, der Mauer wegen, hinter der er nun zurückbliebe?  Hat Ruth denn gedacht sie würde Sörga niemals wiedersehen, der dann doch nachgekommen ist in den Westen.

Roxanne sagt, sie halte es in West-Berlin nicht lange aus, sie könne diese Gesellschaft nicht leiden, sie werde dort nicht gebraucht.

Ich nicke, ich will nicht sagen, dass ich es in Ost-Berlin ebenfalls nicht mehr lange aushielte. Das Grau, das mir früher nie auffiel. Nicht länger als 2 Tage. Es scheint dieses ganze Land unaushaltbar und jede klammert sich an ihren Platz.


Vor der Volkskammer ist eine Menschenansammlung. Wir sehen es zum ersten Mal mit eigenen Augen, eine Demo in Ost-Berlin. Aber das Bild hat sich bereits gewandelt. Wir zwingen uns durch die Menge hindurch. Es sind fremde Gesichter. Es sind die Gesichter der Brigadefeiern. Sie gehören zu gut gekleideten ordentlichen Menschen. Einige halten klappernd Schlüssel in den Händen. Es ist eine in sich geschlossene wutlose und schweigende Menge, deren Wirkung darin besteht, dass sie zeigt dass sie sich zu einem Körper zusammengefügt hat. Einige tragen Fahnen ohne Emblem. Am Rande dieser Demonstration laufen 3 junge Leute mit einem ökologischen Transparent auf und ab und eine Frau mit einem kleinen Kind und einer Kerze in der Hand. Es sind die wenigen anderen zu denen auch wir gehört hätten. Der intellektuelle Glaube an einen neuen Sozialismus scheint also die Massen nicht ergriffen zu haben. Ich weiß, dass er auch mich nicht ergriffen hat, einmal abgesehen von Simone de Beauvoir und Sartre bei Chrustschow, Frida Kahlo in ihrem Bett liegend und malend, an der Wand über dem Bett Fotos von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Zedong. Roxanne bringt uns zur U-Bahn Warschauer Straße. Sie sagt, dass sie lieber Auto fahre. In diesem einen Falle freuen wir uns darüber. Wir lesen das als ein gutes Zeichen.

 

Ich sitze am Morgen am Tisch. Es ist hell und glücklicherweise scheint die Sonne. Plötzlich wird von allen Politikern und allen Medien die Vereinigung beider deutscher Länder als unausweichlich angesehen und so scheint es sicher, dass sie auch kommen wird. Am Vortag ist das ehemalige Staatsoberhaupt aus dem Krankenhaus entlassen verhaftet und am Abend wieder freigelassen worden. Die Verhaftung soll ein Zugeständnis an die Gefühle vieler Bürger gewesen sein, deren Gefühle und Bedürfnisse früher nur sparsam bedient wurden.

 

 

 






Kapitel V



 

Das Haus ist ein Pfarrhaus mit einem großen verwilderten Garten. Aus dem Fenster des Zimmers, das Leonore zuerst hergerichtet hat, sieht man über den Garten hinweg auf das Feld. Sie sitzt in dem Zimmer an einem weißen Kachelofen an dem großen runden Tisch und schaut aus dem Fenster auf den Apfelbaum und das dahinter liegende Feld, als würde sie ein Feld überhaupt zum ersten Mal sehen. Neben der Liege am Fenster steht ein Regal mit ein paar Büchern und Platten ( Ella Fitzgerald, Gisela May singt Brecht und Tucholsky). Es sind nur wenige Platten vorhanden und der Plattenspieler. Ein weißer Schrank, in dem Leonore ihre Papiere aufbewahrt, steht geöffnet neben der Tür. Das Renovieren wird sich über die Jahre hinziehen. Leonore richtet eine Küche mit Waschbecken, Boiler und bemaltem Küchenschrank ein. Zuerst hat die Küche sich auf der anderen Seite des Ganges befunden, weil es dort den einzigen Wasserhahn gab, einen Messinghahn unter dem ein weißer emaillierter Eimer stand.

 


Ruth, Linda, Leonore und Roxanne sitzen zum Essen an einem Gartentisch auf Gartenstühlen. An der Wand steht die Kirchenbank mit einem schwarzen Brandfleck von dem kleinen Elektroherd, den Leonore zu Anfang benutzte. Linda trägt eine braunen Lederhose, Roxanne einen bunten Blumenrock. Die beiden nennen sich Schwesterfreundin. Wenn Roxanne morgens zu Schule muss, begleitet Linda sie mit einer alten Mappe auf dem Rücken zum Schulbus, der direkt vor dem Pfarrhaus hält und den auch die Dorfbewohner zur Fahrt in die Stadt nutzen können. Sie wartet bis Roxanne eigestiegen ist, winkt ihr hinterher und kommt ins Haus zurück.

 


Leonore, erzählt von adligen Vorfahren, zeigt sogar die Kopie eines Adelsbriefes, erzählt von Frauen, die malten, dichteten, Geige spielten, Spielzeuge herstellten.

Während Ruth erzählt, dass ihre Mutter in ihrem Büro die Ansicht vertreten hätte, die kapitalistischen Länder müssten eines Tages die Planwirtschaft einführen.

 


Sie sitzen im Zimmer an einem langen massiven Holztisch, dem Esstisch und unterhalten sich über antiautoritäre Erziehung. Sie haben Summerhill gelesen. Das Buch hat eine Freundin von Leonore, eine Französin, die in Berlin arbeitet, zusammen mit einer Platte Kinderlieder von Wolf Biermann eingeschmuggelt. Ruth und Leonore sind begeistert von der Zuversicht in Summerhill. Biermann als Mensch ist dagegen ein wütendes Thema. Martina sagt, man müsse etwas gegen ihn schreiben. Leonore meint, da sei diese Mutter, die den Nazis Rache geschworen habe.

Man könne auch, mit Studenten von der FU, DIE TRAUMDEUTUNG gegen DAS KAPITAL und mehr, genannt MEGA, Marx gegen Freud tauschen, sagt Ruth.

 


Am Abend sitzen sie im Zimmer das zur Straße geht. Vor den Fenstern stehen Kastanienbäume die bis über das Dach hinweg ragen. Sie sitzen im gelblichen Licht, weil die Leitungen nicht zu sehr belastet werden dürfen. Vor den Fenstern hängen weiße Vorhänge mit roten Schnüren. Auf dem Tisch steht eine Kerze. Sie haben schwarzen Tee gebrüht und Malzkaffee für die Kinder, die nie genug zu essen scheinen, nach ein paar Bissen schon aufhören wollen und gehen.

Und dabei haben wir uns solche Mühe gegeben: ein frisches Brot aus der Stadt vom Bäcker geholt, die geliebte Leberwurst aus dem Konsum und Quark mit frischem Schnittlauch vermischt. Es gibt auch Brennnesselsalat mit Ei. Sie sollen gesund ernährt werden, die kleinen weichen geliebten Münder sollen Gesundheit aufnehmen. Leonore liebt die Kinder, die mit schwarzen Händen aus ihrer großen wichtigen Welt nach Hause kommen. Sie sollen mitreden. Sie wollen eine demokratische Familie sein. Auf dem Boden liegt der von Leonore genähte überlebensgroße Ersatzvater. Aber Roxanne will ihn nicht haben und hat ihn vor die Tür gesetzt. Sie schweigen über die Väter. Linda sagt aber, Rolf sei lustig und sie, Ruth sei langweilig.

Sie wollen keine Brennnesseln essen, nachdem jede ein winziges Häppchen gekostet hat. Und Haferflocken am Morgen wollen sie auch gerne abwählen. Sollen die Mütter sehen wie sie zu ihrer Gesundheit kommen. Sie essen den Brennnesselsalat alleine und finden ihn köstlich, wirklich. Ruth hat die Brennnesseln in Handschuhen im Garten gepflückt und gewaschen, Leonore hat sie zubereitet und beteuert, wie köstlich sie schmecken würden. Mit Leonore hat Ruth ein sicheres und warmes Gefühl. Zwei Frauen, zwei Töchter. Alles ist da. Sie sind nochmal davon gekommen und aus der Ecke heraus. Streit ist nur zufällig.

 


Sie erzählen einander von der Geburt ihrer Töchter. Leonore habe sich in eine Klinik begeben, in der sie schnell bemerkt hätte, dass sie sich unter zumeist alleinstehenden Müttern befände. Manche dieser Mütter ließen ihre Kinder scheinbar in der Klinik zurück. Sie habe sich von den verlassenen Kindern die schwächsten, die am wenigsten beachtet worden wären auf den Arm genommen.

Ruth habe die Verachtung der Ärzte zu spüren bekommen und sie für zufällig gehalten. Sie seien alle gedemütigt worden. Sie hätte sich plötzlich selbst in einem anderen Licht gesehen und das Gefühl bekämpfen müssen sich für eine Asoziale zu halten. Ruth sagt sie habe die Verachtung damit in Zusammenhang bringen müssen, dass sie so jung und nicht verheiratet gewesen sei und die anderen Frauen hätten den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun gehabt, als sich gegenseitig zu beteuern wie lieb wie großmütig wie fürsorglich der Ehemann und wie wild er geradezu auf das neugeborene Kind sei. Wie er jetzt zu Hause so rührend und tapfer selbst das Essen bereite, sogar das Geschirr abwasche, den Boden absauge, oder gar die Wohnung neu renoviere. Ruth habe sich geweigert dergleichen von Rolf zu berichten.

Soll ich euch sagen was meiner jetzt gemacht hat, als Überraschung für uns

und meiner hat das ganz von alleine gemacht, ohne dass ich etwas gesagt habe.

Und diese schrillen, nicht abreißen wollenden gegenseitigen Beteuerungen, die Männer von denen sie sprachen, als wären es kleine Kinder, das alles sei schwer erträglich gewesen.

Die Frau deren Krankenbett neben dem von Ruth stand und die versucht hatte zu Anfang in diese Selbstverständlichkeiten einen Aufenthalt im Knast einzubringen, den sie Kahn nannte, wurde mit ein paar erschrockenen, angeekelten Blicken und Weghören zum Schweigen gebracht. Der selbstverständliche Ton wurde für Knastgeschichten nicht gebilligt, das ginge dann doch ein bisschen zu weit. Die Selbstverständlichkeit war besetzt für die Zweizimmerwohnung mit geradezu rührenden Ehemann.

Ich war ebenfalls ausgeschlossen, sagt Ruth. Ich habe von Anfang an geschwiegen und gelesen! Die Frau schaffte es einmal einen Besuch vom Vater ihres Kindes zu bekommen. Ich habe mich mit ihr gefreut, aber der Besuch nutzte ihr in den Augen der anderen natürlich nichts. Ich bin mit ihr zusammen zum Stillen gegangen und habe mich mit Linda an ihren Tisch gesetzt, an den sich sonst niemand gesetzt hat. Die Frau hatte Stiche an den Beinen. Ein Arzt habe ihr die Bettdecke vom Körper gerissen und gefragt vor allen, was das wohl wäre. Genauso, wie er Ruth herausfordernd gefragt hätte, wie alt sie wäre und als sie 19 sagte, da sie in 3 Wochen 19 würde, er nach einem Moment des Kopfrechnens auf 18 bestanden hätte. Aber auch den anderen habe ihre vorgetragene Makellosigkeit nichts genutzt.

Es gab keine makellosen Mütter, alle wurden herumkommandiert, bevormundet und beschimpft. Sie ließen sich von den Besuchen nur aufregen und hätten dann keine Milch mehr in den Brüsten und die Besuche hätten eigentlich untersagt werden müssen.

Damals habe sie erstaunt, dass Gebären so unter der kalten, unfreundlichen Autorität des Staates gestanden habe. Man habe ihnen die Kinder nach ihrer Geburt nicht einmal in den Arm gelegt, man habe ihnen ihr Baby für ein paar Sekunden wie einen nassen Lappen vors Gesicht gehalten. Die Babys seien auf einer Transportliege nebeneinander liegend, mit einem Pflaster am Arm, auf dem der Name des Kindes gestanden habe, in den Stillraum gebracht worden und jede Mutter habe sich ihr Kind, wie witzig, wenn sie es verwechseln würde, heraussuchen und auf den Arm nehmen dürfen.

Diese Frau, sagt Ruth, habe keinen zweiten Besuch erhalten, sie habe sich auch kein Taxi leisten können, um mit dem Kind nach Hause zu fahren und es habe sie auch niemand vom Krankenhaus abgeholt, das habe sie Ruth mitgeteilt, als sie mit roten Wangen, es war inzwischen herbstlich kalt geworden, einen Kinderwagen, den sie aus ihrer Wohnung geholt hatte, in den Krankenhausflur schob. Ruth sah ihr beim Anziehen des Kindes zu und wie sie es, einen Augenblick lang selbstbewusst, in den Wagen legte. Ruth wünschte ihr alles Gute. Die Frau war ihr, der Verletzungen, die diese hatte einstecken müssen und ihrer Bemühungen mitzusprechen wegen, die sympathischste unter all den Müttern gewesen. Sie hätten aber nie mehr, als ein paar belanglose Worte miteinander gewechselt. Sie hätte das Gefühl gehabt, sie könne die Frau ein wenig beschützen. Zum Abschied habe die Frau ihr in die Augen gesehen und gesagt: Sie nehmen es mir doch wieder weg.

 


Sie stehen in einer Ackerfurche.

Ich will eine Frauengruppe gründen, sagt Leonore, eine die Männer mit einbezieht, einen Diskussionskreis.

Es ist Sonntag, ein schneeloser Winter und grünliches Licht. Es wird bald wieder dunkel werden, schon bald nach dem Mittagessen, das sie spät einnehmen, weil Zeit sein muss zum Spazierengehen zum Reden, zum Spielen. Am Abend werden sie bei Kerzenlicht in den tiefen geflochtenen Sesseln in Leonores Zimmer sitzen. Es wird einen Frauenabend geben, in Berlin. Nein, eine Verteufelung des Mannes solle nicht stattfinden.

Alle außer Leonore, die eingeladen sind, leben mit einem Mann zusammen oder sind verheiratet. Keine sei unterdrückt, sagt Leonore mit einem Lächeln über dem ein winziger Hauch Sarkasmus schwebt, jede habe etwas gelesen und habe dennoch ein verborgenen Grund aus dem heraus sie zu einem solchen Abend kommen würde. Frau dürfe sich nicht vor den Kopf stoßen, sagt Leonore. Alle seien ungeheuer empfindlich.

Sie werde auch die Nachbarin einladen, die Putzfrau:

Wenn sie sie nachts schreien hört, weil sie verprügelt wird, klingelt Leonore und droht damit, die Polizei zu holen. Sie habe dann nach einem solchen Abend bei ihr auf der Couch gesessen und gesagt, während sie plötzlich zu schielen anfing, er kommt zurück. Er hat versprochen es nie wieder zu tun. Das sei sehr traurig gewesen, dieses plötzliche Schielen.

 


Sie gehen immer den Weg am Kiefernwald entlang zwischen Acker und Wald zu einer Scheune, die Leonore sich als Atelier erträumt. Sie möchte in diesem Dorf etwas zur Verfügung gestellt bekommen und anerkannt sein. Sie sehen durch das Fenster der Scheune, in der ein Traktor steht.

Leider bin ich nicht repräsentativ, wie man mir im Sekretariat des Künstlerverbandes sagte, keine repräsentative Künstlerin, also keine Frankreichreise mehr, keinen Reisepass mehr, nicht repräsentativ. Im Vorstand seien nur Männer und eine Alibifrau.

Ich male die Alibifrau, sagt Leonore, sie ist fein und still, manchmal wie ein aufgescheuchtes Huhn, dann wieder geglättet, schön und glänzend, ein 2 Sätze sprechend, das genügt als Beitrag. Ein schönes blindes Gesicht, weiß nichts von der Welt ist außerdem in der Partei, weiß auch davon nichts, gehorcht einfach, wie es sich gehört, hört auch schwer. In ihren schwarzen Bildern ist allerdings alles zu sehen: die Qual des Frauenkörpers. Sie ist inzwischen verhärmt. Die Freiheitsproblematik falle übrigens als Frauenproblematik nicht auf, deshalb könne man sie als Anklage gegen die Freiheitsberaubung durch die Partei benutzen.

Versuch einmal über mich zu schreiben, sagt Leonore, was dir so einfällt zu meiner Malerei was sie dir bedeutet.

Ich habe zu wenig Ahnung von Malerei, ich kann es nicht einordnen, sagt Ruth.

Du könntest es spielerisch versuchen.

Sie lacht. Sie sind nach dem Schließen der Öfen aus dem Haus gegangen und wenn sie zurückkommen wird alles warm sein. Sie werden Kohlen aus der Scheune holen und für den nächsten Tag in den Flur stellen.  

 


Liebe, meine Liebe, deine Leonore. Sie sagt einmal sogar: das schönste, das schönste zwischen Mann und Frau.

Sie versuchten sich an der Utopie Mütter und Kinder. Eines Tages würde ein Mann erscheinen, wie von ihnen erträumt, sie bereiteten nur alles vor für diesen großen Tag. Er würde nicht sein wie die anderen. Er würde so bleiben wie zu Anfang. Er würde nicht eines Tages damit herausrücken, dass er eigentlich etwas anderes zu tun habe, dass das Wichtige ganz woanders sei.

Schließlich zum Schluss habe sie die Frauen vernagelt, sagt Ruth. Sie selbst habe Nägel in den von ihr gemalten Frauenkörper geschlagen. Zuvor sei der Schmerz unauffindbar gewesen. Er habe die Farben erzeugt, das Zittern und Blühen der aufgemalten Häute, das Blühen von Blumen und Ornamenten.

 


Die Tage beginnen mit der Sonne am Frühstückstisch. Linda ist in die Schule gekommen. Linda und Roxanne steigen nun gemeinsam in den Schulbus, der sie ins nächste Dorf zur Schule bringt. Sie sind die Fremden. Die Kinder der beiden seltsamen Frauen. Leonore und Ruth bleiben am Frühstückstisch vor dem stehen gelassenen Geschirr zurück und trinken Tee. Sie trinken die erste Kanne Tee, dann eine zweite und noch eine dritte. Es scheine ihr, als sei immer Sommer gewesen, sagt Ruth. Selbst die härtesten Diskussionen scheinen eine helle Aura gehabt zu haben. Ruth verteidigt Rolf. Sie verteidigt das Zusammengehören von Mann und Frau, das Kompromisse schließen, seit sie sich nur noch einmal, alle vierzehn Tage mit Rolf trifft.

 


Sie fahren in die nächste Kleinstadt, um frische Forellen zu essen. Ruth mit Linda auf dem Gepäckträger. Sie holpern über die von Panzern ausgefahrenen Wege. Sie tragen die Räder über die Schienen auf den Weg. Die Kellnerin in dem Restaurant, in dem es frische Forellen gibt, kennt sie schon.

Sie kaufen Papier und Stifte im Schreibwarengeschäft. Sie baden in einem Tümpel, dem einzigen Gewässer in der Nähe von N. Es scheint, dass es für immer so bliebe.

 


Dann hat Leonore eine Freund. Er sitzt auf der Veranda und wartet. Leonore sieht plötzlich anders aus. Sie trägt einen Rock und ein buntes Tuch im Haar. Es ist ein langer geblümter Rock. Sie trägt ihn auch auf dem Fahrrad. Sie singt am Morgen. Der Freund bleibt ein paar Wochen. Dann ist alles so wie vorher. Eine von beiden geht einkaufen und kocht das Mittagessen. Eine von beiden wäscht später ab.

Siehst du, sagt Leonore, für uns ist es selbstverständlich, dass eine nicht der anderen die Arbeit aufbürdet. Wir kämen nie auf eine solche Idee.

Der Mann hatte im Kühlschrank eine Flasche Wodka deponiert. Ruth hatte es sofort gesehen. Er war mehrmals am Tag an den Kühlschrank gegangen und hatte sich ein Glas eingegossen. Es schien Ruth unmöglich, dass Leonore nichts bemerken sollte. Sie hatte sich zu seiner Komplizin machen lassen. Sie sah es und lächelte ein lächelndes Komplizinnengesicht.

Du als meine Freundin hättest mit mir früher darüber sprechen müssen.

Die Flasche stand im Kühlschrank, sagt Ruth. Du hast sie ignoriert.

Sie habe auf sein Wort vertraut. Zuletzt habe sie gesagt, er müsse damit aufhören, wenn er hier sei, was er nicht gekonnt habe.

Wir haben diese Männer, weil sie die Schwachen sind, sagt Leonore. Sie können sich selbst kaum behaupten. Deshalb kommen wir für sie in Frage. Und sie kommen für uns in Frage, weil sie anders sind, freier, toleranter, auf den ersten Blick. Und dann das.

Sie wechseln einander in N. ab. Jede bleibt eine Woche allein mit den Kindern. Leonore malt ein Auftragsbild in ihrer Berliner Wohnung. Ruth beendet ihr Buch.

Ich will eine Kommune gründen, sagt Leonore. Wir könnten Kinder haben von ein und demselben Mann. Wir könnten der Kern sein.

 


Zwei junge Männer besuchen Leonore. Sie bewundern sie und ihre Malerei. Sie reparieren die alten Stühle und heben einen Graben für die Abwasserrohre aus. Auf einmal sind sie eine große Familie. Sechs Menschen sitzen um einen Tisch und essen Kartoffelsuppe. Die beiden jungen Männer nehmen Linda und Roxanne zum Schwimmen mit. Dann schaut an einem Nachmittag der Abschnittsbevollmächtige vorbei und stellt Fragen. Leonore ist weiß vor Angst. Ruth hat für einen Augenblick das Gefühl, ihr Gleichgewicht zu verlieren. Er fragt nach dem Hausbuch, das er einsehen will. Leonore soll für ihr eigenes Haus ein Hausbuch führen und habe die Pflicht, Besucher einzutragen, die länger als drei Tage anwesend seien. Dann geht er wieder.

Du vergisst solange, wo du lebst und wie du lebst, du wirst regelrecht übermütig, bis sie vor deiner Tür stehen, sagt Leonore. Dann bricht eine Angst aus dir heraus, von der du nicht wusstest, dass du sie haben könntest. Da siehst du, dass du im Hemd stehst und weil deine Fenster auch nicht geputzt sind, sagst du artig und mit ausgesuchter Freundlichkeit, das sind zwei junge Männer, die uns beim Bauen helfen. Wir machen hier sonst nichts, überhaupt nichts, nur Bauen. Und das sind Bilder, meine, ich male, wissen Sie beruflich. Ja, ich verstehe, Sie müssen nach dem Rechten sehen.

Und sie kommen immer zu mir. Sagt Leonore. Immer, wo ich auch auftauche. Leonore lacht Tränen. Aber wenn ich sie rufe, weil mir jemand einen Pflasterstein ins Fenster geworfen hat, dann kommen sie in einer Stunde und sagen, sie könnten nichts machen und empfehlen Jalousien. Leonore trampelt vor Lachen mit den Füßen.

Sie trinken eine Flasche Wein, von dem Leonore wie üblich nur einen Schluck nimmt. Der Schrecken ist ihnen in die Knochen gefahren. Sie rätseln, wer ihn gerufen hat.

Und nach außen sind sie freundlich, sagt Roxanne. Und streichen einem am liebsten noch übers Haar. So ist das. Linda tröstet Roxanne.

Schau, wie sie uns verteidigen, sagt Leonore. Wir lassen uns unsere schönen jungen Männer nicht nehmen. Eifersüchtig sind sie.

 


Linda und Roxanne haben ihre Betten nebeneinandergestellt. Einmal sieht Ruth sie umschlungen im Mondlicht, wie in einem Bilderbuch.

Jemandem eine Kindheit bereiten, diese auf dem Lande an der frischen Luft, unter Leuten, ein Haus voller Spielzeug, ein Haus nur für Kinder und Kunst. Sie habe ein wenig Angst, sagt Ruth, wenn sie plötzlich alleine sei, in diesem Haus. Wenn sie nachts vor der dröhnenden Schreibmaschine sitze. Sie starrt scheinbar stundenlang auf das Fenster, das voller Insekten ist, auf die rot und blau gestrichenen Fensterrahmen, eines wunderbaren Sommers.

Ich will dieses Leben behalten. Was ich einmal geschafft habe, einschließlich des Erhalts einer so genannten Steuernummer, muss nochmal zu schaffen sein. Das Geld ist immer knapp.

Wie lange soll das noch so weiter gehen, dass du einen Scheck nach dem anderen von mir holst, sagt Georg.

Allein in dem Haus in der Nacht an der Schreibmaschine, wenn die Kinder schlafen, taucht manchmal das schwarze Loch auf. Sie sagt, sie gehe sich damit selbst auf die Nerven, mit dieser Schwärze. Die junge Autorin habe scheinbar mit ihrem Blut geschrieben, so stand es in einem Artikel. All das habe sie tatsächlich nicht wirklich gefreut. Manchmal denkt sie darüber nach, ob man die Mauer nicht doch in der Literatur unterbringen müsse, das Pionier- und das FDJ-Sein. Schließlich seien Linda und Roxanne auch der Pionierorganisation beigetreten.

Aber kein Mensch denkt noch an so etwas, wenn er nicht gerade selbst schwitzend in seiner Pionierbluse oder in seiner FDJ-Bluse in einem der Klassenzimmer mit den Ölwänden sitzt und sich sagen muss, ich bin es selbst. Ich sitze hier und schweige, wenn es geht. Oder ich sage etwas auf, von dem, was sie hören wollen. Aber ich bin es. Ich bin diese Person. Und diese Person gewinne trotz allem daraus immer noch ein Gramm Utopie und behalte den guten Glauben an die gute Sache in diesem Land.


 

Es gibt wieder Läuse. Weder Leonore noch Ruth können sich an Läuse in ihrer Kindheit und Jugend erinnern. Jetzt sind sie da. Linda bringt als erste den Befund aus der Schule mit. Eine Laus sei direkt aus ihrem Haar auf die Seite ihres aufgeschlagenen Heftes gefallen. Wir schneiden uns die Haare ab, da wir keine Chemikalien verwenden wollen. Nur die Haare von Roxanne sind unantastbar. Leonore sammelt Läuse und Nissen ab. Ruth bindet sich für eine Zeit ein Kopftuch um. Linda und Leonore finden, dass sie prima aussähen.

Die Sommersonne schimmert auf ihrer Haut. Sie lassen die Königskerzen auf der Wiese erst verblühen bevor sie das Gras mit einer Sense mähen. Zu spät für das Ansehen bei den Bauern. Wie überhaupt der wilde Garten bei ihnen nicht gut ankommt.

Leonore hat einen Eimer mit Kornähren unter das Fenster auf die Holztreppe gestellt. Das Morgenlicht fällt auf die Treppe und auf die weißen Holzwände an der Treppe. Im Herbst ist das Haus vom Duft der Äpfel erfüllt, die sie alle miteinander aufsammeln und auf den Dachboden schütten. Es wird ein großer duftender Berg. Die Sonne spiegelt sich in der Vitrine, die an der Wand hängt und später in den Gläsern des großen Geschirrschrankes, wenn über dem Gras zwischen den Büschen das Licht rötlich ist.

 


Das ganze Haus macht den Eindruck unermüdlicher Produktivität. Als Ruth auf ihrem Tisch eine Liste findet mit Arbeiten, die Leonore für sie vorgesehen hat, nachdem die beiden jungen Männer verschwunden sind, liegt sie in der Nacht heulend in ihrem Bett.

Das Haus ist eine Aufgabe, sagt Leonore. Das Haus muss ausgebaut werden. Wir müssen versuchen, es alleine zu schaffen.

Es ist hell in den Zimmern, leuchtender Staub. Alles scheint offen zu liegen.

Ich habe dich nicht gefragt, ob du wolltest, dass die beiden bei uns sind. Leonores Ton klingt gequält.

Warum sagst du das jetzt, wo sie wieder weg sind? Merkwürdig. Es hat mir nichts ausgemacht. Ich habe mir vorgestellt, dass es schön sein muss, eine große Familie zu haben. Vielleicht waren wir alle in sie verliebt?

So?

Glaubst du wirklich, dass du nichts dabei wünschst, wenn ein Mann hier erscheint?

Leonore hat einen seltsamen Blick.

Ist Rolf eine negative Erfahrung? Fragt Leonore. Er ist auch mein Freund ,denkst du nicht?

Doch, natürlich. Ohne ihn würde ich dich vielleicht nicht kennen. Er ist dein Kollege.

Und du meinst, du hast da eine ganz andere Rolle.

Zum Beispiel, sagt Ruth:

Er steht auf und will jetzt mit mir zusammen sein, bevor er zum Malen geht. Ich habe noch zwei Stunden Zeit, bevor ich Linda aus dem Kindergarten holen muss. Ich stehe von meinem Schreibtisch auf und widme die zwei Stunden Rolf und seinen Problemen, die er jeden Tag von Neuem aufzählt, die nie gemeinsame sind, bei vier Tassen Kaffee. Es ist meine Schuld, dass ich mich nicht wehre. Weil Rolf vollkommen ahnungslos ist.

Bist du sauer auf mich, weil ich nur die interessante Seite von Rolf in Anspruch nehme?

Nein, wir beide halten zusammen. Sagt Ruth.

 


Im Nachbarhof steht die Nachbarin in ihrer Küche und backt Torten für festliche Anlässe. Auch für Leonore, wenn Geburtstag ist. Sie komme zwar unter keinen Umständen ins Haus, sagt Leonore. Sie schweige aber so, als würde sie sie bei Gelegenheit verteidigen. Sie schaue ihr tief in die Augen, als würde sie Ja, sagen. Oder die Witwe, Frau K., schlachte für sie ein Huhn, rupfe es, nehme es für sie aus. Im Bus, mit dem sie zur LPG fährt, habe sie laut gesagt, dass ihrer Meinung nach Malen genauso eine Arbeit sei. Sie lasse auf Leonore nichts kommen. Leonore könne sich darauf verlassen, wenn über sie geredet würde griffe sie ein.

Letzte Woche, als du nicht da warst, sagt Leonore, spät abends, klopft es an der Verandatür. Und als ich öffne stehen zwei betrunkene Männer, der eine von hier, der andere aus dem Nachbardorf, vor der Tür und wollen, dass ich sie ins Haus lasse. Natürlich hat es sich herumgesprochen, dass hier eine Frau alleine ist, da ist es doch selbstverständlich, dass Mann nachts dorthin gehen kann.

Probieren wir es mal zu sagen. Wir sind  alleinstehende Mütter. Im Westen sagen sie Alleinerziehende. Das klinge schon besser, aber es klinge immer noch nach einer Krankheit. Könnten sie nicht etwas schöneres sagen? Sie sind zwei lebendige Kinder und zwei lebendige Mütter.



Sie kommen alle zusammen aus Berlin zurück.

Ich habe weiße Flächen über das Bild gestrichen, sagt Leonore, als sie in der Gaststätte am Bahnhof der Kleinstadt sitzen, Schnitzel essen und Tee trinken und auf das Taxi warten, das sie nach N. bringen soll, weil sie zu viel Gepäck bei sich haben, sodass sie mit den Fahrrädern nicht fahren können und diese in der Aufbewahrung, in die sie die Räder vor ihrer Zugfahrt gegeben hatten, zurücklassen. Wenn sie hier ankommen freuen sie sich schon auf dieses Essen. Ankommen an einem selbstgewählten Ort, der sie magisch anzieht. Es ist etwas anderes, als der Ort der Geburt. Der Geburtsort hat keine magische Anziehungskraft. Ruth sitzt mit Linda und Roxanne hinten im Auto. Die Stadt Berlin wird abgeschüttelt, wie etwas, das sich auf den Schultern befunden hat. Das Land liegt und ruht, es ist vollkommen flach. Es erscheint sehr weit entfernt von der Stadt. Sehr abgelegen, nicht in Kilometern, sondern abgelegen von dem Gedanken der großen Stadt, verschont.

Weißt du, sagt Leonore in ihrem Haus, im Geruch der Steppdecken, wenn du einen Misserfolg hattest, dann musst du zu einem Menschen gehen, der zuvorkommend und höflich sein wird und behutsam dir ein Frühstück macht und dich zum Kaffee einlädt.

Leonore sagt, dass sie zu Tom gefahren sei, eines Morgens, als nichts geklappt habe.

Du musst dich nicht weiter selbst zerstören. Auch dein Selbstzerstörerisches, sagt Leonore zu Ruth. Und bis heute findet meine Mutter nichts an dem, was ich tue. Aber mein Bruder ist für sie ein Wunder. Alles, was er tut, ist wunderbar. Aber du darfst nicht den Müttern die Schuld geben. Tom hat für uns ein Essen gekocht und wir haben Apfelsaft getrunken, sagt Leonore. Er ist sehr moralisch, ein richtig guter Mensch, mit einer Art sozialistischer Moral, die so seltsam wirkt, weil es sich scheinbar um noch etwas anderes als eine politische Haltung handelt. Tom sagt, dass natürlich auch Frauen böse seien. Aber er meint nicht Martina und nicht uns. Er meint wahrscheinlich die Bosheit der Mutter in der familiären Hierarchie. Er sagt es mir wie eine Mitteilung, die er unbedingt machen muss. Er ist korrekt. Er erzählt, dass er am Abend in seinen Zeichenzirkel gehe, den er vernachlässigt habe, obwohl es doch ein so guter Ausgleich sei.

 


Ruth fährt zur Elternversammlung, auf dem Fahrrad ins übernächste Dorf, Lindas und Roxannes Schulweg. Sie schaut auf den Nebel über den Wiesen. Der Tierarzt, den sie schon kennt, hält mit seinem Wartburg kurz vor ihr an. Er sagt, er könne sie doch mitnehmen mit dem Auto. Er legt das Rad in seinen Kofferraum. Sie fahren mit geöffneter Kofferraumklappe. Zurück wird es noch einmal so gehen. Das hell erleuchtete Schulgebäude neben dem Feld. Die Eltern sitzen artig vor der Lehrerin, die ihnen ein angenehmes Bild dieser Klasse, in die ihre Kinder gehen, vermittelt. Ruth fühlt ihr Herz schlagen. Jemand fragt, ob Schnellhefter benötigt würden, ein anderer, ob längliche oder quadratische Rechenkästchen vorgeschrieben seien. Ruth sagt nichts. Der Tierarzt schlägt vor, den nächsten Wandertag zu einem Besuch im Berliner Naturkundemuseum zu nutzen. Die Lehrerin gibt Ruth zum Abschied die Hand und sagt, dass Linda sich gut eingeordnet habe. Ruth lächelt. Sie spürt immer noch ihr Herz. Was solle man schon sagen, meint der Tierarzt, als sie wieder im Auto sitzen. Es sei ja alles zum Wohl der Kinder. Er habe den Vorschlag gemacht, um überhaupt etwas zu sagen, etwas Belangloses. Man sei dazu verurteilt, Belanglosigkeiten von sich zu geben, um überhaupt irgendwie beteiligt zu sein. Man sei doch dazu verpflichtet, anwesend zu sein, seine Karriere zu machen, seinen Kindern den Weg zu ebnen.



Sie habe einer bestimmten Literatur und besonders dem Theater eine Liebe zu einer allgemeinen Vorstellung vergesellschafteter Produktion zu verdanken. Sagt Ruth. In der Liebe zum Theater, sei ihre Liebe zu diesem Land und zu seiner Produktion, wie sie auf dem Theater erschienen sei und in der Kunst überhaupt. Sie liebte die roten Backsteinfabriken und ihren Geruch nach Gummi und Metall.

Aber die dort arbeiten. Denkst du, sie würden uns mögen?.



Berlin ist die Anziehungskraft der Hölle. Auf dem Land der Blick in die Weite der Felder und Wiesen mit dem einzelnen Baum am Horizont. In der Stadt der Blick in den schillernden, lockenden Abgrund. Ruth geht im Auftrag der Zeitung zur Nachtschicht einer Fabrikarbeiterin, mit der sie ein Interview führen soll. Zur Nachtschicht, weil sie denkt, der Frau damit einen Gefallen zu tun. Um eine gewisse Verbundenheit herzustellen in der Stille der Nacht. (Um mich bei ihr anzubiedern, denkt Ruth) Sie kennt die Fabrik aus ihrer Schulzeit aus dem so genannten Unterricht in der Produktion. Als sie die Fabrikhalle betreten, die Arbeiterin hat sie vom Fabriktor abgeholt, sagt sie, Ruth möge aufpassen, dass sie sich nicht schmutzig mache. Jetzt sitzt sie mit der Frau auf Hockern vor der Automatenreihe, die diese im Auge behalten muss. Sie ist ernst. Eine ernste Parteigenossin in ihrem Alter. Und eine von beiden ist hier die Fremde. Sie sagt, dass sie über die Partei nicht sprechen wolle, als handle es sich um eine Art Geheimdienst mit einer geheimen Mission. Ruth will sie nach ihrem Tagesablauf fragen und hat sich vorgenommen aus ihr eine tolle Frau und eine Frauensache zu machen, was, wie sie weiß nicht negativ auffällt. Aber die Arbeiterin und Parteigenossin sträubt sich. Sie sagt, welche Romane sie gelesen hat und es sind tatsächlich die Produktionsromane, die sie Ruth sympathisch macht mit ihrem ernsten Geheimdienst -(und geheimer Parteiauftrag) Gesicht. Das Interview hat sie schon leid. Eigentlich will sie von all dem, ihren Tagesabläufen, ihrem Familienleben unter der Maßgabe der Schichtarbeit, ihrer Weiterbildung nichts sagen. Sie ist eine Genossin, die Aktivistin wird, (diese Auszeichnung ist auch Irma zuteil geworden) und in die Zeitung muss. Dann beantwortet sie die Frage, warum sie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ist auf eine für Ruth überraschende Weise. Es sei ihr politisches Engagement, jemand müsse es tun, sich politisch engagieren. Ruth wird es unbehaglich. In ihren Gedanken formt sich ironischerweise der nicht auszusprechende Widerspruch: Ihr war noch nie in den Sinn gekommen, dass jemand die Mitgliedschaft in dieser Partei als politisches Engagement betrachten könnte. (ehrlich)

Nach dem Ende der Nachtschicht stehen sie zusammen an der Straßenbahnhaltestelle, jede auf ihre Straßenbahn wartend. Sie warten lange, betrachten gemeinsam in einem Schaufenster eine Bluse, die ihnen beiden gefällt. Jetzt lächelt die Frau. Ruth steigt zuerst in ihre Straßenbahn. Sie fährt durch die nächtlichen ausgestorbenen Straßen über den dunklen Fluss, an dessen Ufer sich die Fabriken befinden und ihn vergiften.

Sie schreibt den Artikel in N. Und als er veröffentlicht wird, ist die Arbeiterin mit Lockenwicklern auf ihrem Kopf an den Maschinen stehend, auf dem Titelblatt zu sehen. Es ist nicht die Frauensache geworden. Auch ihr Schreiben nicht. Nicht einmal das. Das Eigene wird während des Schreibens verdrängt. Man wolle jetzt doch der Staatsbürger sein. Es doch weiter versuchen.

 


Also, sagt Leonore, auf dem alten Sofa sitzend, das auf der Veranda steht, müssten wir von vorne bis hinten bedient werden, wenn wir die schwere Aufgabe der Mutterschaft zu lösen haben. Nicht den Haushalt, den sie just zur Mutterschaft hinzuzählen

Das Geräusch der kleinen nackten Füße auf den Holzdielen. Linda und Roxanne sitzen auf ihren Betten und spielen Karten. Leonore liest auf einem Sessel sitzend Die Kunst des Bogenschießens.

Roxanne und Linda packen einen Picknickkorb und fahren auf ihren Rädern in die Felder mit der Katze in einem Korb, die vom Rad herunterspringt und in ihren Garten zurückläuft. Eines Morgens finden sie die Katze tot in der Scheune. Sie trauern. Die Katze soll beerdigt werden. Roxanne und Linda graben ein Loch. Sie malen auf ein Stück Holz den Namen der Katze. Leonore trägt die Katze auf einem Spaten und legt sie in die Erde. Als es zu regnen anfängt überzieht Roxanne das Holz mit einer Cellophantüte, damit der Regen die Schrift nicht abwäscht.

Als die Mäuse kommen, brauchen sie eine neue Katze. Ruth will eine wilde Katze ins Haus locken und stellt eine Schale mit Milch in den Flur. Aber immer, wenn Ruth die Tür hinter der Katze schließen will, damit die Katze im Haus bleibt, ist diese schneller und schon wieder auf die Veranda gesprungen. Die Mäuse richten sich ein. Eines Morgens sieht Ruth eine tote Maus, die sich scheinbar dort selbst erhängt hat zwischen den Scharnieren der Kellertür. Die erste Maus hat es bereits in die erste Etage in das Kinderzimmer geschafft und sitzt dort in einem Einkaufsbeutel, Ruth wirft ihn aus dem Fenster mit dem Gedanken, die Maus werde schon Irgendwie zurechtkommen. Leonore stellt Fallen auf. Schließlich gelingt es doch, die neue Katze im Haus zu halten und die Mäuse ziehen sich wieder zurück.

 


Sie sammeln heruntergefallene Äste im Garten für ein Feuer am Abend. Sie rösten Kartoffeln über dem Feuer. Der Sohn des Pfarrers spielt Flöte. Leonore holt von ihrem Dachboden Musikinstrumente und spielt und tanzt und spielt, bis die Nachbarn sich beschweren. Sie kaufen Möhren von einer Bäuerin aus dem Nachbardorf und essen sie unterwegs auf. Sie verspüre diesen Heißhunger, sagt Leonore, seit sie auf dem Lande sei. Heißhunger auf Äpfel und Kirschen und Brombeeren am Straßenrand. Und sie erzählt von Frankreich, von dieser Reise, von der sie immer noch zehrt.

Als ich zurück kam, war ich krank, sagt Leonore. Dieses Land, wenn man sich einmal davon wegbewegen könne, löse eine noch schlimmere Apathie aus, als die, an die man sich schon gewöhnt hätte. Es sei dieses Land in jedem seiner noch so kleinen Äußerungen, das einen fertig mache. Selbst in der Botschaft der DDR in Paris, in der sie sich habe melden müssen, sei sofort alles DDR gewesen, mitten in Paris. Der Stuhl, der Tisch, die Gardine, der Funktionär. Sie habe nach dieser Meldung wie gerädert auf der Straße auf dem Pflaster von Paris gestanden.

 


Die Hampelmänner, die Leonore mit den Kindern bastelt sind aus Sperrholz. Sie sägen Kopf, Körper und die einzelnen Glieder aus, die später am Körper befestigt werden. Aber das wichtigste ist die Bemalung. Sie stellen eine ganze Kollektion wunderschöner, nie da gewesener, wie Ruth denkt, künstlerischer Hampelmänner her. Am späten Nachmittag sitzen sie alle immer noch am Fenster, um im letzten Tageslicht zu malen. Sie merken kaum, dass es dunkel wird. Die Hampelmänner hängen sie an die Wand über der Treppe. Alles ist Kunst, wird verwandelt. Möbel, Kinder, der Tisch voller Speisen. Alles ist diese eine endlich leuchtende Farbe. Leonore trägt die Farbtuben in die Räume zurück, die ihr als Atelier dienen. Es ist ziemlich verstaubt. Bis auf eine Kommode, auf der sie Zeichnungen ausgebreitet hat. Sie schaltet das Licht an, damit Ruth die Zeichnungen betrachten kann. Sie stürmt mit Linda und Roxanne die Treppe hinauf, während Ruth vor ihren Zeichnungen steht. Sie malt nicht, wenn ich da bin, denkt Ruth, oder sie arbeitet überhaupt nur in Berlin, wenn ich mit den Kindern hier bin. Wir können nicht mehr miteinander sprechen und versuchen mit den Kindern etwas zu überbrücken. Sie sagt, ich solle den Ofenbauer heranschaffen.  

 


Ruth fährt zu einem Ofenbauer. Seit einem Jahr wird er beschwatzt und mit Whisky zu bestechen versucht (den er mit einem müden Lächeln an sich nimmt), damit er endlich mit dem Bau einer Etagenheizung begänne. Ebenso schwer, wie an eine Heizung, ist es, an Sickerringe für eine Sickergrube und für den Bau des Bades heranzukommen. Sie versuchen Sickerringe über die LPG zu bestellen.

 


Es war für mich wie eine Überschwemmung, sagt Ruth. Sie stellte Anforderungen, zu viele Anforderungen. Dass wir etwas veranstalteten, dass wir mehr Gäste hätten und noch mehr Frauen und Kinder um uns versammelten. Aber Ruth ist damit beschäftigt, ihr Buch zu Ende zu schreiben. Sie sei deshalb einmal in der Woche nach Berlin gefahren, um sich mit ihrer Lektorin zu treffen.

Vielleicht war das, was wir uns vorgenommen hatten, einfach nicht zu bewältigen gewesen, hatte Leonore am Telefon gesagt.

 


Ruth meldet Linda in den Herbstferien von der Schule im Nachbardorf ab und in Berlin wieder an. Sie werden N. verlassen.

Sie stehen in dem hinteren Zimmer, dem Zimmer, das Leonore zu allererst in diesem Haus eingerichtet hat, mit Blick auf das Feld hinter den Apfelbäumen. Es ist das schönste Zimmer. Leonore steht vor dem weißen Schrank und sucht etwas. Sie scheint sich gerade zu einer Büroarbeit durchgerungen zu haben. Ruth möchte, dass sie etwas von dem Geld zurückbekommt, dass sie zum Ausbau des Hauses beigesteuert hätte. Beide fangen zu schreien an. Ruth schreit, dass Leonore immer nur Angst habe, dass ihr etwas weggenommen würde. Hysterisch sorge sie immerzu für den Fall vor, sie könne einen Verlust erleiden, oder irgendwie benachteiligt werden. Sie schreien, da es um Geld geht. Leonore steht mit dem Rücken an den weißen Schrank gelehnt. Ruth lehnt mit der Schultert am Kachelofen. Sie versucht nicht zu heulen. 

 


Sie gehen manchmal lächelnd aneinander vorbei. Sie sind weiterhin abwechselnd abwesend von N. Linda und Roxanne schließen sich eng zusammen. Sie gehen zusammen zur Schule und machen gemeinsam Schularbeiten. Dann bricht die Wut aus ihnen hervor. Sie streiten darüber, wer von beiden Müttern Schuld sei.

Sie sagen den Kindern, es sei keine Katastrophe. Dass sie sich weiter mögen, dass sie auch wieder zusammenkommen würden. Es habe das Zusammenleben nicht geklappt.

 


Als Ruth Geburtstag hat, will Leonore ihr ein rot-weiß gestreiftes Hemd schenken. Sie trägt es die Treppe hinauf und hängt es an Ruths Türklinke. Als Ruth Leonore in der Küche trifft, bedankt sie sich. Mehr kann sie nicht sagen. Die Spannung ist zu groß. Leonore ist blass. Sie kann ebenfalls nichts sagen. Als sie mit den Kindern am Tisch sitzen bei der von der Nachbarin bestellten Geburtstagstorte, gelingt es ihnen, das Gespräch vorzutäuschen. Sie wissen, dass es geht, man darf sich nicht abkapseln.

 


Ruth steht mit gepackten Koffern bereit. Leonore kommt in einem weißen Gummimantel aus dem Garten über die Veranda gelaufen. Roxannes Stimme klingt angestrengt. Linda sieht sehr brav und sehr klein aus. Vor dem Tor wartet das Taxi. Als sie über Land fahren, das sehr grau und sehr still wirkt, kommt kein Schmerz auf.

Sie haben noch über eine halbe Stunde Zeit. Sie sitzen auf dem Kleinstadtbahnhof auf einer Bank und essen eine Tafel Schokolade.

 


Du erinnerst dich, sagt Ruth. Durch diesen Bahnhof fuhr immer der Schnellzug von Berlin nach München. Und ich riss die Augen auf um diesen Zug in mir aufzunehmen. Und was für ein seltsames Gefühl, als würde ich wegtreten, oder das Land würde wegtreten, als ich dann wirklich aus München kommend in diesem Zug sitze und durch den Bahnhof fahre und versuche, diesen Ort, den ich nun nicht mehr besuchen kann, mit den Augen zu berühren. (Ausgesperrt, hatte Leonore gesagt, möchtest du, dass ich die Äpfel aus N. in den Westen schicke?)

 


Ich habe Leonore drei Jahre lang nicht gesehen, sagt Ruth. Dann fuhren wir wieder nach N., in den Ferien und an den Wochenenden, Linda und ich.

Als sie das erste Mal in Leonores Esszimmer stand, oder schon in dem Moment des sich Näherns auf der Chaussee, wenn auf einmal das Dorf, noch in der Ferne erscheint, war ihr, als würde sie nach Hause kommen.

Leonore hatte das Esszimmer umgeräumt und sie hatte sich ein Fernsehgerät gekauft. Auf dem Fensterbrett lehnte ein Artikel über Marx und seine Tochter, den Leonore aus einer Tageszeitung ausgeschnitten hatte. Auch die fliegenden Ameisen, die jedes Jahr ihren Weg über dieses Fensterbrett nahmen und nach ein paar Tagen verschwinden, waren da. Leonore zitierte Tolstoi aus seinen philosophischen Schriften, in denen er über die ausbeuterische Gesellschaft wütet, aus einem Buch, das unvermittelt erschienen war und das alle gekauft hatten. Sie heben zusammen, in der ehemaligen Küche, die das Badezimmer wird, eine Grube aus, in die eine Badewanne eingelassen werden soll.




 




Kapitel VI




Mittags in der Bibliothek sehe ich einen Mann die Treppe herunterkommen, der einen Gürtel mit DDR-Emblem trägt und ein Abzeichen am Jackett das scheinbar die Basilika auf dem Roten Platz darstellt. Ich bekomme irgendwie seltsame Herzklopfen. Von der Volkskammerwahl, die in der DDR stattgefunden hat, ist an diesem Ort nichts zu bemerken. Alle sind anderweitig beschäftigt.

Die Bibliothek ist überfüllt und das ist sie schon seit einiger Zeit. Ich will hier das bereits Geschriebene für meine Diplomarbeit durchlesen und korrigieren. Ich gehe schließlich in den Vorraum der Bibliothek und setze mich dort ans Fenster.

Gegenüber, zwischen St. Matthäus-Kirche und Neuer Nationalgalerie, der Polenmarkt, der mehrmals verbotene und verlagerte, mit dem ich mich vertraut fühle, in dieser verschachtelten Art, die unsere und meine Vergangenheit betrifft und der mich zum ersten Mal dazu angeregt hat, mir zu Hause Bigos zu kochen, ein Essen aus Kohl, Sauerkraut, Fleisch und Speck, das niemand außer mir isst.  Einen Tag vor der Wahl war ich in Ost-Berlin und spazierte über den Mittelstreifen der Schönhauser Allee, um mir die Wahlplakate anzuschauen. Es war seltsam, dass mir die Steine so erschienen, als habe der Kapitalismus bereits begonnen, ein fahles Morgengrauen über den bunten Schnipseln, so wie nach einer Silvesternacht.

Die Schreibtische im Vorraum der Bibliothek sind eine Neuerung und ich fühle mich auf diesen Plätzen nicht besonders wohl. Vielleicht dienen sie eher der Gruppenarbeit, sodass man sich unterhalten kann. In meinem Rücken sitzen sich zwei Frauen gegenüber und diskutieren leise miteinander. Sie haben wie ich Texte vor sich liegen und gestikulieren. Auch sie haben sicher ein anderes Thema als die Volkskammerwahl im Osten. Nach dieser Wahl sind die Leute, die ich treffe und die sich damit beschäftigen, erschüttert, angeekelt oder enttäuscht. Das Auftreten einer Menschenmenge, die zu verachten sich keiner leisten kann, treibt einen um. Mein Ressentiment besteht im Zuordnen einzelner Personen, die mir gerade im Wege stehen, zu jener Masse, die der Erzeugung dieses bestimmten Ganges der Geschichte verdächtigt wird. Das eigene Ressentiment ist das Peinliche. Ratlos betrachte ich meine seltsam nutzlosen Gedanken. Ich zwinge mich drei Stunden lang zu lesen. Dann gehe ich in der Abendsonne am Ufer entlang. Eigentlich ist es erst Nachmittag und nur durch die kürzlich vorgenommene Zeitverschiebung, trifft das Nachmittagslicht auf die Abendstunde.

 


Ruth und Sörga gehen in ihrem scheinbar vertrauten gemeinsamen Körper nebeneinander her. Sörga findet sofort heraus, dass Ruth nicht vollkommen bei der Sache ist, bei ihrer Sache. Im Vorübergehen liest Ruth einen an eine Hauswand geklebten Zettel, auf dem ein Lesbentreffen angekündigt wird. Auch hat sie in einem Zeitschriftenartikel, den Sörga angeschaut hat, das Wort patriarchalisch, das vor dem Wort kapitalistisch stand, angestrichen.

Gerade weil es mir aufgefallen ist, sagt Ruth, dass Schreiberinnen sich zu dieser Wortverbindung durchgerungen haben auch, wie man sieht, in dieser durch und durch männlichen Zeitung.

Männliche Zeitung ist für Sörga eine Provokation, über die er jedoch lacht. Ruth kann nicht anders, als mitlachen, bis sich eine zweite Ruth zu Wort meldet.

Warum kannst du nicht auch diese Feststellung treffen. Dass etwas daran ist, hast du doch selbst zugegeben.

Aber Sörga hatte lediglich gesagt, dass sie beide damit überhaupt nichts zu schaffen hätten. Und dass, was sie beide anginge davon überhaupt nicht berührt würde.

Die Blätter der Bäume sind in den letzten Tagen gewachsen. Solange die Sonne scheint, gehen sie mit geöffneten Jacken und mit wehenden Schals nebeneinander her.

Nichts brauchen wir, sagt Sörga, als den Boden unter den Füßen und ein bisschen Grün, das spricht. Wir sind im Zentrum des Frühlings, und so nahe man den Ahnungen kommen kann, sind wir den Ahnungen jetzt gekommen.

Ruth sieht auf das abwesende Auge von Sörga. Er hat seinen Blick auf etwas anderes gerichtet, als ihre Gemeinsamkeit, auf eine Frau, die auf den Steinen am Ufer sitzt. Ihr Haar ist verfilzt und sie sitzt reglos da in ihrer Jacke aus blauem Stoff. Dieses Blau ist das von Sörga bevorzugte Blau, weiß Ruth. Sie hat diese Frau schon des Öfteren gesehen. Sie ist nicht ansprechbar. Sie macht den Eindruck, als würde sie einen bei einer Ansprache sofort angreifen.

Über den Dächern befindet sich ein zarter grünlicher Schein. Sörga hat seinen Blick über das Wiesengrün gerichtet. Ihre Schritte verbreiten einen scharrenden Ton.

Das sind also wir, denkt Ruth, die gewohnheitsmäßig am Kanal entlang bis hin zum Eisverkäufer spazieren. Aber jetzt sind wir Vergangenheit. Sörga gehört nicht hierher, an diesen Kanal. Er gehört zu einem ganz anderen, einem sicheren Leben. Das ist hier alles streng voneinander getrennt. Es geht ihm gut.

Ein altes großes, grün gestrichenes Segelboot liegt auf dem Wasser.

Haben wir schon einmal gemeinsam gesehen, wie die Schwäne über den Fluss entgegen der Strömung fliegen und das Geräusch der Flügel gehört, das sich anhört, wie das Brechen von Knochen? Fragt Ruth. Sörga bejaht es. Sie denkt schweigend an ihn. Wie schön sich vorzustellen, dass Sörga einmal ein Kind gewesen ist, dass Sörga einmal ein junger Mann gewesen ist, dass er einmal ein Familienvater und ein Ehemann gewesen ist. Bevor sie einander kennen lernten. Alles ist lange her.

Der Eisverkäufer befindet sich in einem Anhänger, sodass der er sich mit den Eistüten, die Sörga kauft zu ihnen herunterbeugen muss. Er hat Sörga wiedererkannt. Oder er gibt es nur vor. Nein er gibt es nicht vor. Er erkennt ihn, aber nicht mich, denkt Ruth. Verbündete. Sie verlangen die Streichung des Wortes patriarchalisch, nicht die Unterstreichung.

Sie verlangen, dass das Nachforschen auf diesem Gebiet aufhöre und dass die Verallgemeinerungen auf diesem Gebiet aufhörten.

Es gibt nicht Männer und Frauen, sagt Sörga, während sie gehend ihr Eis essen. Es gibt nur Menschen.

Er sagt es gäbe nur Mächtige und Ohnmächtige, oder auch, dass es die Macht nicht gäbe, was er von ihrer Schwester, der Studentin hat. Aber auch Ruth gefällt dieser Gedanke im Prinzip. Während ihr der Gedanke, manche Frau wolle vielleicht vergewaltigt werden, was selbstverständlich scherzhaft gemeint sei, nicht billigen kann und Sörga dringend darum gebeten hat, von einem solchen Gedanken Abstand zu nehmen, während Sörga sie einmal bezichtigt, einen Orgasmus nur vorgetäuscht zu haben.

Man kann gegen diesen frischen männlichen unternehmungslustigen Blick nichts tun, denkt Ruth. Dass ich nicht bemerkt habe, dass er mich mit eben diesem Blick in Erwägung gezogen hat.

Sörga ist jetzt zu diesem abschließenden ruhenden Weltbild gelangt. (Jeder Mensch ist doch gespalten. Jeder Mensch ist doch unterdrückt, jeder Mensch ist doch sterblich).

 


Linda begrüßt Sörga mit Freundlichkeit. Für sie hat er eine mehr positive Weltsicht bestimmt: Die Erde, die sich in einem Universum befindet. Die Pflanzen, deren Namen man bestimmen solle. Der Mensch, der ein Organ und Prozesskörper ist. Sörga ist jetzt Arzt und Linda scheint ihm geduldig zuzuhören. Ruth will nicht, dass sie erwachsen ist, dass sie nachdenkt über sie, ihre Mutter und deren Politik bezüglich des Verhältnisses von Mann und Frau. Linda vermisst ihren Rolf, obwohl sie ihn nicht, wie Leonore einst behauptete für einen Gott hält. Sie hat sich vorgenommen, ihre Mutter nicht zu wiederholen, wie sich das vielleicht alle vornehmen. Sie sagt, dass es andere Verhältnisse geben würde zwischen Mann und Frau und dass sie sie finden würde.

 

 

Die Reise nach Speyer ist Ruths letzte Bahnreise von Berlin aus durch die alte DDR. Es ist die Zeit, als die Bürger aus diesem Land massenhaft über Ungarn, das die Grenze geöffnet hat, nach Österreich fliehen. Auch Ruth und Rolf hatten zunächst vorgehabt mit Linda nach Österreich auszureisen, als sie sich dazu entschlossen hatten einen Ausreiseantrag zu stellen. Warum musste es überhaupt Deutschland sein, hatten sie sich gefragt. Aber ihr Besuch in der österreichischen Botschaft ergab eindeutig, dass sie dort nicht erwünscht wären und keine Chance hätten, österreichische Staatbürger zu werden, wie sie sich das in ihrer Naivität vorgestellt hatten. Warum also hat man diese infantilen Gedanken, man wäre überall auf der Welt willkommen?  Denkt Ruth.

Als die Ausweise kontrolliert werden, dreht Ruth die Zeitschrift auf ihrem Schoß, die das Geschehen an der ungarischen Grenze im Titel hat, auf die Rückseite, um nicht Anstoß zu erregen und ärgert sich gleichzeitig über ihr Verhalten. Der Mann in ihrem Abteil, der bis zur Passkontrolle geschlafen hat, zeigt seinen DDR-Ausweis. Er wird weiterschlafen bis Frankfurt am Main und kein Gespräch anfangen. Er hat mit den politischen Ereignissen in der DDR nichts zu tun. Er hat einen Pass und ist Rentner. Wahrscheinlich besucht er Verwandte. Er hat einen in Westberlin gekauften Blumenstrauß auf den Gepäckhalter gelegt, was an der Verpackung zu erkennen ist.

Ruth schaut aus dem Fenster. Sie weiß genau, wie die Ränder der Teerstraße, an der die Trabants stehen, alle scheinbar in grauer Farbe, aus der Nähe aussehen und die Bänke in dem Schulgebäude (Immer scheine die Sonne, der Anfang eines russischen Liedes, das sie in der Schule sangen, je ein Fenster für einen Buchstaben). Es geht durch die bekannte Landschaft, in der sich auch N. befindet, ihr geliebter Ort und der Kleinstadtbahnhof von B., den sie durchfahren. Im Zug sitzend fährt sie neben ihrer Straße her. Neben dem Sandweg, dem gelbgrauen Sand und dem Gras zu beiden Seiten. Eine Frau mit einer Einkaufstasche läuft über die Teerstraße, in der Ferne grünende Felder und schwarz weiße Kühe auf einer Wiese. Es schmerzt, die ewig Bundesdeutschen über die DDR schwätzen zu hören. Es kommt aus dem Nebenabteil. Ein erklärendes Selbstverständnis im Ton aller Selbstverständlichen. Dabei weiß sie es selbst nicht besser. Die Polizisten und Kontrolleure scheinen sich in ihr Abteil zurückgezogen zu haben. An der Grenze verlassen sie den Zug. Ende des Gehorsams.

Wo Ruth dann entlang fährt kennt sie sich nicht mehr aus. Auch wenn sie in Wittenberg schon einmal gewesen ist. Auf einer Klassenfahrt in einer Jugendherberge, wo es so kalt war, dass sie zu dritt in einem Bett schliefen. Und in Halle, um sich mit einem DEFA Regisseur die Stadt als Schauplatz anzuschauen. Aber daraus wurde dann kein Auftrag für ein Drehbuch für sie. Niemals war sie in Bitterfeld oder Leuna gewesen, aber sie stellt sich innerlich auf einen bestimmten Gestank ein, der jedoch nicht eintritt. Es ist nur die wie ausgestorben wirkende Industrielandschaft, eine Mondlandschaft. Sie sieht geheimnisvoll und vergiftet aus. In Naumburg waren sie mit Irma während eines Urlaubs. Sie besuchten gemeinsam den Naumburger Dom. Und Irma, ihre Mutter, hatte später immer erzählt, wie fasziniert Ruth von diesem Dom gewesen sei und wie sie nach einem Rundgang noch einen zweiten hätte absolvieren wollen. In Bad-Kösen wurde Heringsfilet in Tomatensoße entdeckt. In Weimar das Goethe und das Schillerhaus besucht. Und sie erinnert sich, dass sie auch Mitglied in einem politischen Zirkel war, mit dem sie von Weimar aus Buchenwald besuchten und den Buchenwaldfilm sahen. In Gotha hatte sie einmal eine Freundin besucht, die dort studierte. Als letztes fährt der Zug durch Eisenach, wozu ihr nichts einfällt.

 

Der Dom zu Speyer, in dem Ruth später steht, den sie als Touristin besucht, ist mächtig und schön und der richtige Ort, um zu trauern. In der Krypta des Doms findet in einer spanischen Familie eine Taufe statt, was eine wohltuende Ablenkung ist. Ruth steht auf einer Treppe und schaut dieser Taufe zu. Die schöne Mutter, das Baby haltend, trägt einen Hut, der aussieht wie ein großer Insektenflügel. Kinder und Fotografen, die nicht zu stören scheinen, laufen umher. Das Baby wird aus einer silbernen Kanne begossen.

Warum muss ausgerechnet Leonore sterben, denkt Ruth. Das darf es doch nicht geben. Warum gerade sie, von der sicher jeder, der sie kannte gedacht hat, sie würde sehr alt, das vorausgesetzt hat, weil sie nicht entbehrlich ist, nicht für Roxanne, für ihre Freunde und Freundinnen nicht, nicht für Martina und Thomas, nicht für Rolf und Linda und nicht für dieses Land.

Das getaufte Baby ist schon in die Sonne hinaus getragen worden und wahrscheinlich mit seiner Mutter und mit seinem Vater in einem der mit Blumen geschmückten Wagen verschwunden.

Ruth ist bei Freunden zu Gast, die in erster Linie, die Freunde von Rolf und Kunstsammler sind. Sie sagen, die Achtundsechziger Zeit habe auch sie geprägt, was Ruth nicht vermutet hätte in diesem bürgerlichen Milieu, das sie durchaus zu genießen weiß. Sie geht durch die übersichtliche Stadt, die Provinz. Hier gibt es keine Bettler, keine Junkies, keinen Müll und keinen Lärm. Sie wandert hinaus in die Berge. Auf Weinberge hinunterblickend schreibt sie ihren letzten Brief an Leonore, die diesen Brief nicht mehr erhält. Sie schreibt an Leonore, die schon im Sterben liegt, was sie nicht weiß. Aber sie weiß, dass sie stirbt. Sie schreibt einen Abschiedsbrief, eine Liebeserklärung, eine Bewunderung, eine Lobpreisung. Und ihr fällt ein, dass Leonore katholisch war und einmal zur Schwarzen Madonna von Tschenstochau gepilgert ist, zusammen mit einem Theologiestudenten. Sie hat ausprobiert, was auszuprobieren war. Vielleicht hatte sie doch eine Ahnung:


 

Leonore hat alles geschafft: Ein Kind großzuziehen (großziehen, das ist ein unangenehmes Wort), das sie nun trotzdem benutzt. Ein Kind, ein Haus, ein Baum, ein Werk. Das alles wurde in großer Anstrengung geschafft.

Einsamkeit: Frage: Was hast du zu Sylvester gemacht? Antwort: Ich habe auf zwei kleine Babys aufgepasst.

Leonore sprach von Isolation: Also sitze ich unter dem Tisch und habe einen Hunger danach, ebenbürtig zu sein. Es macht mir allerdings auch Freude, was Laien zu meinen Bildern sagen. Und natürlich habe ich Cranach kopiert. Und dann wirst du in diese Familie nicht mehr eingeladen, weil die Gefahr besteht, dass du die Ehefrau negativ, wie sie es ausdrücken, beeinflusst. Du darfst dann plötzlich die Frau nicht mehr sprechen. Sie ist auf einmal, wenn du kommst verschwunden. Und eine Weile bist du erstaunt und dann weißt du, dass du niemals ernst genommen worden bist und du weißt, dass du dich woanders umschauen musst und du weißt nicht, wie du loskommen sollst von hier.

In einem Buch über krebsfeindliche Ernährung, das Ruth sich für Leonore gekauft und woraus sie ihr Rezepte geschickt hatte, las sie etwas über Zellen, die zu ersticken drohten und die deshalb in einen Notstoffwechsel wechselten, die also mittels Gärung Krebszellen würden, weil sie aus irgendeinem Grunde keinen Sauerstoff bekämen. Dabei hatte sich Leonore, seit Ruth sie kannte, gesünder ernährt als andere. Sie hat weder geraucht, noch Alkohol getrunken, noch übermäßig viel Fleisch gegessen. Nur einmal an einem Weihnachtsabend hatten sie alle so großen Appetit auf Fleisch, dass sie außer der Flugente auch noch Koteletts zubereiteten. Leonore sammelte Körner und schnitt Kornähren am Feldrand. Sie hatte Angst, ihre Nahrung könne Krebserreger enthalten. Und über die Liebe sagte sie. SIE interessierten sich nicht dafür was du möchtest, noch für irgendwelche Folgen. Und sie sagte: Weil meine Mutter so war, wie sie war, wofür sie nichts kann, bin ich Feministin geworden. Die Mütter sind nicht schuld, den Müttern darfst du die Schuld nicht geben.

Sie erinnerte sich an ihren Vater. Es sei eine dunkle Erinnerung an ein Ostern: Er lief mit einem Rucksack voller Ostereier vor uns her in den Wald, wo er sie versteckte.

Sie sagte, die Luft in N. sei sicher besser, als die Luft in Berlin, besonders besser als die In Prenzlauer Berg. Als sie nach N. gekommen sei, in diesem ersten Sommer, habe sie sich nicht um das Haus gekümmert. Sie habe an der Sonne gesessen. Sie habe die Sonne getrunken, sie habe irgendwie zur Sonne zurück gefunden. Vom Ersticken sprach sie bezüglich des uns allen bekannten Druckes in diesem Lande. Und dann versuchte sie, sich dieses Druckes zu entledigen:

Weißt du, ich habe heute im Verband Bildender Künstler auf einer Verbandssitzung eine Rede gehalten, ich habe mir einen Zettel geschrieben, bin nach vorne gegangen und habe eine Rede gehalten. Das musst du unbedingt auch einmal versuchen, aber bei euch ist ja alles zu sagen erlaubt. Ich habe Reisefreiheit für alle und eine Quotenregelung verlangt. Leider hatte ich besonders unter den Damen keine Anhängerin, aber das ist ja immer so.

Das Telefongespräch dauert drei Stunden bis in die Nacht hinein, da vor 23 Uhr keine Telefonverbindung zwischen Ost- und Westberlin zustande kommt.

Ich habe also frei die Rede gehalten, was jeder tun kann und versuchen sollte, denn es ist nichts passiert.

Jahre davor hatte Leonore in einem Schreiben Reisefreiheit gefordert und war für ein Jahr aus dem Verband ausgeschlossen worden, auf Bewährung so zu sagen. Das hatten sie also nicht wiederholt. Aber zu Rolf hatte jemand gesagt, Leonore habe wirres Zeug geredet.

Leonore beschwert sich, dass Ruth nicht genügend Rücksicht nähme: Mit Sicherheit werden unsere Telefongespräche abgehört, deshalb bin ich traurig, dass du oft nicht daran denkst, ich merke, dass du das vergessen hat, weil du nicht mehr in Gefahr bist. Aber ich bin hier. Du dagegen bist herausgerissen und das muss auch schmerzhaft sein und macht aggressiv. Erst darfst du das Land nicht verlassen, dann darfst du das Land nicht mehr betreten. Manchmal denke ich, du hast doch alles verloren, du und ihr alle.


 

Ruth betrachtet den Weinberg, den Sand und die knorrigen Reben ganz in der Nähe. Aber es ist besser in die Weite zu blicken.

Leonore besitzt den Mut, jemanden der ihr gefällt anzusprechen. Ruth hat es beobachtet, als sie sich einmal zufällig auf einer Straße in Prag trafen. Sie denkt an Leonores Versuche makrobiotischer Ernährung und das eher halbherzig betriebene Yoga und die Schweißausbrüche angesichts der Bürokratie: Hast du auch deine Steuererklärung immer zum letzten Termin…, oder dann sogar zu überhaupt keinem Termin mehr. Und dann die Ängste. Wir haben heute Angst vor einem Handwerker, der unsere Waschmaschine reparieren soll, wir können es kaum über uns bringen, diese ungeheure Anstrengung, einen Handwerker oder Kohlen, oder sonst was zu bestellen. Diese ungeheure Überwindung, die dazu nötig ist. Ich bin müde. Diese Müdigkeit hat zur Folge, dass ich tagelang, ehrlich gesagt wochenlang nicht arbeiten kann, eine gewisse Blutarmut vielleicht. Ich habe in der Sonne geschlafen, der Schlaf hat mich tagelang nicht erfrischt. Ich bin scheinbar schon einmal in eine Art Todesschlaf versunken. Ich denke manchmal, die Ernährung, oder Tschernobyl, irgendetwas muss doch die Ursache für diese Müdigkeit sein, aber wenn es dir auch so geht, was meinst du, was könnte die Ursache sein. Meinst du, ich will eigentlich abwesend sein? Hier abwesend, vielleicht? Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt anwesend bin. Ich muss mich immerzu lauthals zu Wort melden, um nicht übergangen zu werden. Ich bin einfach in eine Abwesenheit abgestellt worden, wie meine Bilder in den Keller gestellt werden. Man hat mir eine Abwesenheit zugeteilt. Und. Es gibt wenige, die meine Arbeit jetzt anerkennen, nach eigentlich so vielen Jahren bekomme ich Aufträge und in der Regel werden von mir ausgeführte Auftragswerke nach einer Weile in den Keller gestellt. Das scheint hier mein Schicksal zu sein. Und dann das Reisen: Als ich das erste Mal die PROVENCE wiedersah, wo wir als Kinder mit unserer Mutter gezeltet hatten, habe ich mir gesagt, dass ich nicht erst sechzig werden will, um meinen Pass behalten zu dürfen. Wir werden wie Entmündigte behandelt. Ohne einen Mund. So geht es an den Körper, hatte Leonore gesagt. Und wir fordern unseren Körper heraus: Einmal im Winter haben wir, Roxanne und ich, uns überwunden und uns nackt in den Schnee gelegt. Das war ein wunderbares Gefühl. Und beim Yoga lernst du richtig Luft zu holen. Und bezüglich unserer Ernährung musst du den Haferflocken nur eine winzige Prise Salz zugeben und sie bekommen einen süßen Geschmack. Zuerst scheint sich der Magen gegen diese Nahrung zu sträuben, aber wenn du erst einmal auf den Geschmack gekommen bist, spürst du, was für eine Wohltat die Haferflocken sind.

Und das Gesundheitswesen: Bevor ich zum Arzt ging, habe ich mir alle Beschwerden genau aufgeschrieben und Fragen, die ich stellen wollte. Ich bin nicht dazu gekommen, nur die Hälfte der Beschwerden zu nennen, geschweige denn, Fragen zu stellen. Man hat mir den Mund verboten und selbst, wenn ich einmal eine Frage zu viel gestellt haben sollte, ist das vielleicht ein Grund, mich der Hysterie zu bezichtigen.

Ich kann mir nicht mehr erklären, woher diese unendliche Schwäche kommt. Ich kann auch niemanden mehr danach fragen. Manchmal habe ich Angst, dass ich ihr als zu übermächtig erscheine, dass ich Roxanne zu wenig Platz gelassen habe. Manchmal habe ich Angst, dass sie Depressionen bekommt, meinetwegen. Es wäre manchmal gut, denke ich, es wäre noch jemand da, mit dem sie sich verbünden könnte. Ein Mann. Später vielleicht gehen wir wieder aufeinander zu, wir können sie nicht laufend von uns fernhalten, natürlich nicht. Und Männer sollten sich ebenfalls in Gruppen zusammenschließen. Aber wenn ich unter ihnen bin, rede ich nicht mehr davon. Wenn ich unter ihnen sein will, bitte ich darum, dieses Thema nicht mehr zu behandeln. Es wurde ohnehin nur von mir zur Sprache gebracht. Es wurde ohnehin nur von mir erwartet. Es gibt ja noch andere Themen in der Politik.

Ich spüre das Schweigen in meinem Bauch, wie eine Schwangerschaft. Das hat sie gesagt. Die ich Morgen austragen werde. Du musst diese Art des Kompromisses auch einmal probieren, wenn es auch eine Art ist, nun endgültig allein zu bleiben. Und das endgültig zu wissen. Siehst du? Ich habe ein Bild gemalt und habe es Beckmanns Frühstück genannt. Wir dürfen unseren Humor nicht verlieren.

Es war plötzlich eine furchtbare Zeit mit dem Fernsehgerät. Ich bin froh, dass ich es wieder los bin.

 


Ruth sitzt allein in den Bergen an einem zufällig gefundenen Ort. Um sie herum die Weinberge. Ihre nackten Füße befinden sich auf einer weichen Stelle des Grases, das die alten vertrockneten Grashalme verdeckt. Natürlich könnte jeden Moment jemand auftauchen und natürlich hört sie aus der Ferne den Autoverkehr. Sie sitzt, wie sie immer gesessen, im Gras, das sticht und das weich ist. Sie hat vorher das Gras nach möglichen Ameisen durchsucht. Sie hat Schuhe und Strümpfe ausgezogen, ihre Tasche und die Brote ausgepackt und eine Flasche Mineralwasser, das warm geworden ist. Sie hält den Schreibblock auf ihren Knien und schreibt mit an den Himmel gelehnter Stirn. Sie denkt: Das wird nicht gehen: Ich habe keinen Mut, mich zu verabschieden. Plötzlich geht es um eine Form, um Sätze, die von ihr noch nie benutzt wurden, plötzlich geht es darum, eine Wirklichkeit für den Abschied in den Tod zu erkennen. Und zwar in der Situation, in der es nicht möglich ist, die Sterbende hinter der Mauer aufzusuchen, da es nicht möglich ist, mangels eines Telefons in ihrer neuen Wohnung, mit ihr zu sprechen. Leonore würde sprechen.

Das Wort Sterben kann nicht benutzt werden, denkt Ruth.

 


Sie wandert in der Sonne durch die Weinberge und erfährt später, dass dies Leonores letzter Tag auf dieser Erde war. Ein wunderschöner Tag.



Und plötzlich wird in der Anwesenheit dieser Kinder schon gestorben. Das Kind, deren Spur sie gerade noch gefunden hat, am Morgen, wenn das Licht auf das Linoleum im Badezimmer fällt,  in die Enge zwischen Wanne und Becken, ist da eine Spur des Zurückgezogenseins mit einem Kind, an einem Ort, in einem Haushalt. Das Klingen des Geschirrs um die Mittagsstunde und der Ruf der Tauben sind eine Spur und das Ausschütten eines Mülleimers, draußen in einem völlig verlassenen Hof, die Kühle des Hofes und der Geruch von Essen. Aber wo ist das Kind und handelt es sich um Ruths oder um seine Kindheit. Spielt es im Sand oder schläft es. Im Winter stand das Kind einmal mit seinen roten Stiefeln im Schnee auf den, wie es sagte, erfrorenen Kohlen. Im Garten liegt eine verlassene Puppe. Und das Kind verlässt unseren Frühstückstisch.

Ruth mag die Beobachtungen der Kinder, die auf einem anderen Grund zu gehen scheinen, ihre Augen immer am Boden, wo sie Käfer und Ameisen bewundern oder die in den Blättern versteckten Schmetterlinge.

Fasst nie einen Schmetterlingsflügel an, hatte Irma gesagt, denn sie zerfallen sofort und der Schmetterling stirbt. Auch sind ihnen beim Spielen einige Tiere zerfallen, wie Regenwürmer und Quallen, erinnert sich Ruth. Das Kind nimmt einen Spaten an sich und weiß nicht, dass nicht alle Dinge zu seiner Verfügung sind. Es sucht am Strand nach Bernsteinen, denn irgendwo hat es gehört, dass es am Strand Bernsteine geben soll. Und später, wenn es schon älter ist, kostet es heimlich von unbekannten Pilzen. Das Kind stellt in der Untergrundbahn ungeniert Fragen in das tiefe Schweigen der Fahrgäste, während es auf der Bank kniet und in die Dunkelheit des U-Bahnschachtes blickt, weil ein Fenster dazu da ist, hinaus zu sehen. Und plötzlich sind all die kleinen Jungen und Mädchen aus der Kindheit verschwunden und angekommen in unserem Erwachsenenleben. 

Ruth schleicht in ihr Zimmer, wo auf einem Sessel Sörga sitzt und schläft. Sie denkt, dass die Kinder, die jetzt geboren, diese Mauer nicht mehr kennen würden. Sie würden keinen Beton im Körper haben. Aber vielleicht hatte Linda auch viel weniger im Körper davon als sie. Vielleicht waren sie rechtzeitiger weggegangen.

Sörga sagt, als er aus dem Sessel aufgestanden und zu Ruth ans Fenster getreten ist, dass jetzt ihrer beider Eltern Verbrecher seien, Diener verbrecherischer Systeme. Das ist natürlich ironisch gemeint. Aber langsam scheint es, als würde in ihr ein schwarzes verfaultes Land heranwachsen. Sie denkt, dass diese sprachlose Generation jetzt ihre Sprache nicht mehr lernen würde. Es würde zu spät sein. Auch sie habe Angst, jetzt schon im Schatten des Alters zu verschwinden. Es sei, als würde schon Gras über sie wachsen. Sörga lacht. Soweit sei es mit ihnen also gekommen. Und dann meint er auch, wenn man hier etwas verdienen wolle müsse man etwas für die Wohlhabenden herstellen. Ganz einfach sei das.

 







Kapitel VII

 



Eigentlich hätte ich das Studium beenden sollen bevor die Mauer fällt, sage ich meiner Schwester. Auch unsere UNI ist nicht mehr das, was sie war, obwohl niemand spricht.

Wer spricht? Fragt Ruth, was ein Zitat von irgendwoher ist. Und eines Tages würde es sich schon zeigen, wer gesprochen habe.

 

 

Ich treffe mich mit Martina an der Spree. Wir sitzen auf einer Bank gegenüber der Nationalgalerie, die jetzt die Alte Nationalgalerie ist. Inzwischen hat es Kommunalwahlen gegeben. Und Berlin soll eine rote Stadt geblieben sein. Und was hätte das schon zu bedeuten, sagt Martina und sie stelle sich schonmal vor, wie es sei, vielleicht entgegen anderslautender Versicherungen, den Arbeitsplatz zu verlieren. Martina klagt nicht. Sie habe auch keine Angst. Und wo habe ich das alles gehört, wie sich diese Bevölkerung angeblich fühlen soll. Sie macht auf mich einen trotzigen Eindruck. Sie will auch nicht mehr ergründen, was sie selbst getan hätte oder getan haben sollte. Das seien nun Lappalien, die sie vorgehabt hätte auszubreiten in der ersten Euphorie des Aufbruchs. Hatten wir uns wirklich vorgestellt, dass jeder mit seinem Päckchen Schuld nun vor den anderen treten und es auspacken würde. Vielleicht ahnt Martina, dass ich mich auf den Weg mache, um etwas von dem Wandel dieses Ostberlins anzuschauen. Und schon interessiert mich nicht mehr richtig, wie die Waren aus den Kaufhäusern verschwinden, um später ausschließlich durch die westlichen Erzeugnisse ersetzt zu werden, interessiert mich das abgerundete Bild nicht mehr, das sorgsam gesammelte Mosaik, es ist reizlos geworden. Vielleicht merkt sie, dass ich, wenn ich hierherkomme in eine vollkommen unangemessene Überheblichkeit verfalle. Diese Überheblichkeit ist eine Art Halt. Die Kehrseite ist das Gefühl des langsamen Untergehens.

Ich war mit einer Studienkollegin hier im Theater, sage ich zu Martina. Ich wollte ihr schnell noch etwas aus meinem alten Leben zeigen. Ich habe im Publikum kein einziges mir bekanntes Gesicht gesehen, wie früher doch immer.

Da sitzen wir nun unter der Trauerweide, sagt Martina, wer hat denn an Vereinigung gedacht und auch noch an Berlin als Hauptstadt und als Krönung möglicherweise auch noch eine Olympiade in Berlin und auch noch der Reichstag, dass einem schlecht wird.

Wir scheinen einer Meinung zu sein. Und wir haben auch dieses fünfziger Jahre Gefühl, das in den Medien schon gestanden hat, wie alles dort schon gestanden zu haben scheint. Das Nachkriegsgefühl also, dass es einem schwarz werden kann vor Augen. Und das früher vollkommen unzulässige des Vergleichs dieser beiden aufeinander gefolgten Diktaturen, habe sich plötzlich abgeschwächt, sage ich und ich hätte immerzu das Gefühl, etwas in mir aufhalten zu müssen.

Ich habe das Gefühl, als könnten wir uns selbst nicht mehr vertrauen, müssten andauernd unseren frei flottieren Gedanken hinterherjagen. Der Diskurs ist noch unbestimmt. Und wer wird ihn bestimmen. Das ist die Frage.

Wohin steuert dieses verdammte Land, aus dem ich auswandern wolle, wenn es nur möglich sei. Und dann die Friedrichstraße. Wie lange bin ich nicht hier gewesen und dieses Haus sehe ich zum ersten Mal und all die neuen Cafés. Und wollen wir nicht die Modemesse besuchen, im Haus der sowjetischen Kultur mit der Statue, die Wladimir Illich Lenin darstellen soll, überlebensgroß im Gebäude versteckt.

Setzen wir uns doch und essen Eis und trinken Kaffee, sagt Martina.

In der Leipziger Straße, wo wir früher zusammen gesessen haben und wo wir jetzt wieder zu höheren Preisen zusammen sitzen können. Wie, sagt Martina in ihrem ironischen Ton? Lenin sei jetzt entlarvt und wie witzig, dass er immer noch da stehe. Und das sei jetzt so, dass alles hier genauso teuer werde und jeder würde ein Konto erhalten für sein in DM umzuwechselndes Geld. Als würden wir nicht Stunden des Tages mit Nachrichten jeglicher Form verbringen. Und die Schulen, was geschehe in den Schulen? Und was passiere mit den Schulnamen und den Straßennamen und den Kollektivnahmen. Und was wird aus unserer Sowjetunion?

Jetzt ist es genug, sagt Martina.

Am Abend, nach dem Gewitter singen die Vögel in einer Wölbung von Dunkelheit. Aus den Steinen steigt Regenaroma. Es tropft. Alle Türen und alle Fenster sind geöffnet, damit die Hitze aus den Räumen entweicht.

 


Ich höre eine Sendung über ein KGB-Lager. Ich sitze vor dem Radio und heule. Die Sendung ist scheinbar aus der DDR. Sie wirkt peinlich auf mich. Die Frauen sagen, dass sie keine Hassgefühle hätten. Sie haben das Bedürfnis, es selbst zu sagen. Sie sind danach nicht gefragt worden. Sie bekennen, schuldig gewesen zu sein. Sie scheinen den Ton der Sendung aufbrechen zu wollen, bescheidene Opfer sein zu wollen. Die Frauen scheinen erklären zu wollen, dass es sich nicht um Auschwitz gehandelt habe. Die Frauen könnten unsere Mütter sein. Irma hatte uns gegenüber jenes Lager, in dem sie ein Jahr lang interniert gewesen sei, zu einem Scherz verklärt. Sie sei schon einmal im Leben im Gefängnis gewesen. Sie lachte. Sie sei eine Kriminelle. Wir würden eine kriminelle Mutter haben. Sie sagte, die Russen hätten Frauen vergewaltigt. Sie sagte nicht, ob sie selbst vergewaltigt worden wäre und uns war auch niemals eingefallen, sie danach zu fragen.

In der Sendung sagt eine Frau: Wir sind auch vergewaltigt worden, heutzutage kann man das ja sagen.

Ich heule in der Nacht und am nächsten Morgen. Ich liege mit geöffneten Augen und betrachte die Lichter auf meiner Zimmerdecke.

Das Land ist weich. Keine Tränen mehr, keine Furcht, eine Art Verzeihung. Wir sitzen mit Thomas, der Stadtrat geworden ist, worüber wir alle stolz sind und Martina in einem Weinlokal, an einem von uns geliebten geheimnisvollen Ort. Sörga hat alle eingeladen. Wir sitzen an einer langen Tafel. Ruth und Linda und Rolf und Roxanne. Nur Leonore fehlt. Das Leben hat eine wunderbare Seite. Wir essen und trinken. Meldungen über Lagerplanungen der Stasi, können aufgenommen, können betrachtet werden, keine Verschiebungen, keine Entschuldigungen. (wie wir doch früher die Mauer zu entschuldigen wussten), provoziert Martina noch einmal, was im Erheben der Gläser untergeht.

Das Land ist weich. Der Boden ist weich und fault, das Land stirbt. Aber es interessiert uns nicht mehr.

 


Ich komme über einen Hof mit einem mit Schilf und Binsen bewachsenem Teich, die Kläranlage eines ökologischen Wohnprojekts, das Gegenstand eines Praktikums war. Er ist noch da, der Teich. Aber funktioniert er auch noch, der Teich mit den Binsen, der aus dem Abwasser das Brauchwasser herstellt, das wieder zum Spülen benutzt werden soll, um Trinkwasser zu sparen? Er ist noch da, aber es ist anzunehmen, dass er verworfen wird, oder schon wurde. Ansonsten müssten die klärenden Binsen überall oder zumindest in einigen anderen neuen Wohnanlagen zu finden sein.



© Doris Paschiller, 2021



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