Acker und Horizont (Max Stock)

Text für den Katalog: Acker und Horozont (gekürzte Fassung)

das nebenstehende Bild ist ein Gemeinschaftswerk von Max Stock und Hermann Rudorf (2002)

unten: Fläming 1976 (Lithografie)



Anfang - Landschaft - Blick

 

Landschaft und Gesicht wachsen aufeinander zu. Ebenso Plakativität und Spiritualität, Modellzeichnung und Karikatur und bringen die Welt des Zeichners und Malers Max Stock hervor. Kunst ist eine Domäne der Wahrnehmung, des Erkennens und Ergreifens einer optischen Sensation, die nicht als Zeichen reflektiert wird, sondern beeindruckt. Die Form erregt Aufmerksamkeit. Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt dem Künstler einen Blick zu, der eine Gleichheit der Dinge aufnimmt. Aus dieser entstehe das Kunstwerk in einer Form der Einfachheit, deren Tiefe ihre Erscheinung selbst sei. Die Beliebtheit des Einfachen ergibt sich aus dem Empfinden, dass die Wahrnehmung hier kompakt, dass sie rund und wesentlich ist. Max Stock begegnet der Einfachheit zuerst in der Kargheit einer Landschaft. In der Lithografie Fläming von 1976, einer Horizontlandschaft, lassen sich die Gründe seiner Kunst identifizieren. In diesem Bild wird auch die Linie geboren, von der so oft die Rede ist und sein wird, an jenem vertrauten Ort, an dem der Künstler aufwuchs. Der Horizont, nur mit den Augen und nie mit den Füßen zu erreichen, erzeugt durch seine Begrenzung ein Bild vor Ort in der kultivierten Natur. In der Wahrnehmung der begrenzten Landschaft, die eine durch Linien geteilte Fläche ist, liegt schon die Abstraktion, und gleichzeitig die Erfahrung, dass die Bilder von Außen kommen. Ebenso die Erfahrung des eigenen künstlerischen Blicks, der im Außen das Bild ergreift, das zur Aufzeichnung drängt. Jackson Pollock sagte, seine Bilder kämen von irgendwoher, sollte heißen: von Innen. Er rechnete mit einem inneren Reservoir, das sich über seine Bewegung ausdrückte. Für die Lithografie Fläming hat die äußere Landschaft bereits als Bild funktioniert, als Form, die begeistert. Der Horizont erzeugt ein Gefühl des Überblicks und der Kontrolle über die Existenz, die auf jede erscheinende Linearität und Flächigkeit angewendet werden kann. Die Bilder kommen auch von Innen als Ideen, als Gefühle und durchkreuzen die reine Übertragung. Gesehenes verschränkt sich mit Unbewusstem. Wichtig aber bleibt, dass der Künstler etwas weit über den Gegenstand Hinausgehendes im Blick hat und dass er einen entscheidenden synthetischen Moment wahrnimmt, den genau er festhält.

 

 

Max Stock (*1948) wuchs auf einem Dreiseithof im Fläming in der Nähe der Stadt Jüterbog auf. Seine Eltern waren Bauern, seine Mutter wurde von ihm gern in ihrer Unermüdlichkeit bei der Arbeit des Rüben Verziehens beschrieben. Es konnte vorkommen, dass er sich für die Langweiligkeit der Landschaft entschuldigte, die es ihm in ihrer Kargheit und Klarheit jedoch angetan hatte und deren gnadenloser Flachheit und Eintönigkeit er verfallen war. Er hatte das drängende Gefühl, kein Bauer werden zu können, und sein zurückhaltender Vater musste für ihn in der LPG die Erlaubnis für einen alternativen Beruf erwirken. Max Stock erlernte zunächst das Malerhandwerk und später das Handwerk des Schriftenmalers. So waren die Werkzeuge und Materialien gewählt, mit denen er in seinem Leben hauptsächlich umgehen würde. 1968 begann er in Berlin Gebrauchsgrafik zu studieren. Er verließ das Dorf und verbrachte die erste Nacht seiner Ankunft auf einem Bahnhof. Dann begab er sich hinein in die Stadt mit der unsichtbaren Mauer, die noch nicht alt war. Er hatte noch Kindheitserinnerungen an Westberlin. In der Stadt überlagerten sich vielfältige Eindrücke und nervöse Stimmungen. Der Horizont war verstellt. Aber die Stadt war voller Gesichter. Wo Max Stock auftauchte, wurde er schnell bekannt und beliebt mit seinen Zeichnungen, einem langen Atem und der Fähigkeit, Menschen zu unterhalten. Die Stadt, voller Beziehungen, voller pulsierender Bewegung, regte ihn zu einem Unterwegssein an, das er bis heute kultiviert.

 


In der Mitte der siebziger Jahre richtete er sich, damit er der Stadt entfliehen konnte, in dem Dorf im Fläming auf dem Hof der Familie ein Atelier ein. Er wollte vor allem malen. 

 Auf dem Acker erhoben sich einzelne Bäume und ließen das typische Bild entstehen: auf dem Horizont eine zweite Linie, die Vertikale, die axis mundi. Die Mittelachse der Welt. Ein Stellmacher erhielt den Auftrag für einen Zeichenschrank. Die unspektakulären Materialien, die Max Stock verwendete, Papier, Leinwand, Pappe, Blöcke, chinesische Zeichenbücher, Pinsel, Acrylfarbe Zeichenkohle, Kreide, Tusche und Stifte wurden wie kultische Gegenstände behandelt. Die weiten Felder und ihre Farben und Flächen in Grün, Braun, Ocker und Gelb, wenn der Raps blühte, sendeten motivierende Kräfte und Intensitäten aus. Mit Vorliebe ließ er Früchte und Pflanzen trocknen, damit sich ihre Farben intensivierten. Mit den Intensitäten der Landschaft wirkte auch die Liebe zur Kunst. Max Stock fühlte sich mit Künstlern wie Matisse, Giacometti, Picasso und Modigliani verbunden. Er suchte ihre Werke auf, war ein ständiger Gast in den Gemäldegalerien und Käufer von Bildbänden.

Offenheit und Empfindsamkeit waren die Qualitäten der Malerei, die Max Stock ansprachen und die er kommunizierte. Mit der Offenheit, die er bei Picasso beobachtete, war der Abschluss eines Werkes im richtigen Augenblick gemeint: Picasso habe nie ein Bild „fertig gemalt“, habe „Entwürfe stehen lassen“. Diese Art Offenheit ist, so könnte man sagen, der Ausdruck eines Ganzen, das als Ganzes nicht zu erfassen ist. - ein Paradox. Max Stock war von der feinen Empfindsamkeit Giacomettis fasziniert, dessen Biografie er immer wieder las. Giacometti erklärte seine Arbeit so: „Mich interessiert nicht mehr die äußere Form der menschlichen Wesen, sondern das, was ich in meinem Leben gefühlsmäßg spürte.“ Und: „Was ich wirklich empfand, beschränkte sich auf eine Platte, die in einem bestimmten Winkel im Raum stand und auf der sich gerade nur zwei Vertiefungen befanden, wenn man will: das Erlebnis der Vertikalität und Horizontalität, das man vor jeder Figur hat.“

 


Als wir 1984 auf dem Westberliner U-Bahnhof Friedrichstraße ankamen, das heißt, auf dem U-Bahnhof, der für uns immer verschlossen war, und den wir plötzlich vom Osten aus betraten, war das die seltsamste physische und emotionale Erfahrung eines Ankommens. Max Stock fielen die großen Werbeflächen auf, an denen er augenblicklich fürchtete, künstlerisch zu scheitern. Der von ihm verehrte Alex Katz sagte einmal, er kämpfe seit den 30er Jahren gegen das Kino an und das wichtige für ihn sei nicht die Erfindung, sondern die visuelle Dominanz. Tatsächlich ergab sich für Max Stock in Westberlin keine Gelegenheit, Plakate zu entwerfen, aber die Kontinuität des Malens und Zeichnens blieb ungebrochen. Es begann eine intensive Phase der Malerei. Max Stock mietete sich, beflügelt von der Kreuzberger Atmosphäre, in eine Fabriketage am Mehringdamm ein, die sich mehrere Künstler teilten. Es entstanden großformatige Gesichter, Landschaftskörper und Körperlandschaften. Das Liegende und das Begrenzende, Fläche und Linie, Acker und Horizont. Er beteiligte sich an Ausstellungen, wie an jener in Landau in der Pfalz, die den Wechsel von Künstlern aus dem Osten in den Westen thematisierte. Er fand Kontakt zur Ladengalerie von Karoline Müller und 1987 kaufte das Kupferstichkabinett einige Grafiken an. Langsam bildete sich ein Kreis von Interessenten seiner Kunst.

 


Von der Ausreise im Jahr 1984 bis zum gesellschaftlichen Umbruch der Wende, der Energien für künstlerische Aufbrüche freisetzte, waren es nur fünf Jahre. Anfang der Neunziger war Max Stock nicht nur als Zeichner unterwegs, sondern zusätzlich, um in dem von Ruth Hammel betriebenen Café Clara 90 in der Clara-Zetkin-Straße Ausstellungen zu organisieren. Er versammelte dort bis 1998 Künstler aus Ost und West, wie Karin Pott, Kedron Barrett, Eun Nim Ro, Franziska Uhl, Lusici, Gisela Neumann und Peter Rasmussen. 1997 fand eine umfangreiche Ausstellung der Arbeiten von Max Stock im Haus am Lützowplatz statt, kuratiert von Karin Pott, der damaligen künstlerischen Leiterin des Hauses. 1998 kehrte er nach Prenzlauerberg zurück. 2001 arbeitete er zusammen mit dem in Berlin lebenden Maler Hermann Rudorf an dem Gemeinschaftsprojekt: Ein Bild für Jawlenski. Es handelte sich dabei um die Hommage an einen Maler, dessen Hauptthema ausdrücklich das Gesicht war. Nach Jawlenski „ist das Gesicht nicht bloß das Gesicht, sondern der ganze Kosmos. Im Gesicht offenbart sich das Universum.“ Die Verabredung der beiden Künstler bezog sich auf eine personenbezogene Trennung von Farbfläche und Linie. Abwechselnd erhielt einer der Künstler die bearbeitete Fläche des anderen, um dann seine eigenen Linien oder Farben zu setzen. Einige der Bilder wurden zuerst 2001 in der Galerie Barbara von Stechow in Frankfurt am Main gezeigt. 2002 präsentierte die Buchhandlung und Galerie Herschel in Berlin-Mitte die Werke unter dem Titel: Das Gesicht der Farbe.

Im Jahr 2001 gründete Marlene Jachmann, im Rahmen des Zusammenschlusses von Kunstprojekträumen zur Kolonie Wedding, die Galerie Eiswürfel. Die Künstlerin selbst, Max Stock, Julia Antonia und Rolf Eisenburg, gehörten zu den ersten Künstlern der Galerie. 2004 entstand in der Grüntaler Straße ein Wandbild in Gemeinschaftsarbeit von Marlene Jachmann, Rolf Eisenburg und Max Stock. 2008 stellte Max Stock in der Galerie A in Pankow aus. Die Ausstellung trug den Titel Aus der Linie geboren.

 

 

Künstler und Modell, Spiritualität

 

Das Beobachten einer Stadt voller Menschen mit Zeichenblock und Stift in der Hand, das Erfassen der Gesichter einer Stadt ist die leidenschaftliche Tätigkeit des Künstlers. Das Zeichnen nach Modell, eine von Max Stock immer wieder aufgenommene Übung. Das Geübte ist über einen Zeitraum erkennbar als Grundtyp aller gezeichneten und gemalten Köpfe, Porträts und Gesichter, zumeist sind es Frauen.

Warum das Weibliche als Inspirationsquelle bevorzugt ist, können uns patriarchatskritische Überlegungen verdeutlichen, wie die der Psychoanalytikerin Christa Rohde- Dachser. Sie entdeckt im Freudschen Konzept des Unbewussten ebenso das Konzept des Weiblichen. In Freuds Verständnis bilden sowohl das Unbewusste als auch das Weibliche einen dunklen Kontinent, eine versteckte Welt. Die Frau erhält, wie Rohde Dachser kritisch bemerkt, die Funktion eines Containers, in dem all das deponiert wird, was man vom Bewusstsein oder von der Ratio fernhält. Das Unbewusste ist das Fremde, das Geheimnisvolle, das Dunkle, das Verlorene, die Natur und die Frau. Auch bildende Künstlerinnen sind gern unterwegs auf dem dunklen Kontinent. Sie nehmen sich häufig selbst als Modell, wie Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo, Elvira Bach. Nicht das Gesicht schlechthin, sondern das weibliche Gesicht wird zum Hauptthema der Bilder Max Stocks.

 


Spiritualität, Symbolik

 

Als er Alexej Jawlenski für sich entdeckt, den bis 1941 in Wiesbaden und im Schweizer Exil lebenden Maler russischer Herkunft und Schüler Ilja Repins, identifiziert sich Max Stock bewusst mit dem Spirituellen seiner eigenen Kunst. Das menschliche Gesicht, ein Angelpunkt der Spiritualität, ist der differenzierteste Ausdruck, den das Universum hervorgebracht hat. Die Kunst liegt darin, diesen differenzierten Ausdruck mit der einfachen Linie zu verbinden. Dies ist ein Weg zu symbolischen Formen. Und zwar von Fall zu Fall. Max Stock ist gleichermaßen beeindruckt von den Gesichtern Frank Auerbachs, der nach Schönheit und deren Zerstörung strebe, wie von Alex Katz und seinen wunderbar sensiblen Zeichnungen, der sagt, er sei süchtig nach Schönheit.

Max Stock ist an beidem interessiert. Seine hart gezogenen Linien in einigen seiner Paarbilder, oder Linien mit denen er ein Gesicht konturiert und zerteilt, Liniengeflechte, mit denen er das Gesicht aus dem Vordergrund streicht oder mit einer Landschaft verbindet, scheinen zerstörerisch. Solche Bilder haben mit Zeit und Gegenwart zu tun. Sie führen einen aktuellen Augenblick der Schwere und Empfindlichkeit der Existenz vor. Sie können auch die Verstrickung im Vergangenen bedeuten. Die Differenzen zwischen Schönheit und Zerstörung, Humor und Ernst, Kindlichkeit und Erotik, zwischen Klarheit und Verschwommenheit in seinen Arbeiten werden gern auf die jeweils gefällige Seite verkürzt. Sie sind aber Teil der Spannung, die den Künstler zur Symbolik animiert, zum Zeichen, zur Einfachheit. Diese Spannung wird immer wieder neu geschaffen, denn Kunst und Künstler brauchen das Neue. Die harte Linie in den Bildern Max Stocks kann man direkt der spirituellen, Erkenntnis gewinnenden Vorgehensweise zuordnen, während der symbolische Ausdruck eines Bildes mit der Dominanz einer eher einfachen, gleichmäßigen und klaren Linie verbunden ist. Zwar teilt die Linie immer, das ist sozusagen ihre Aufgabe, aber die harte Linie schneidet geradezu aus und geht auf den Augenblick aktueller Wahrnehmung zurück. Anders als die zur Symbolik tendierende Linie, die mit der Erinnerung verbunden ist. Der Maler oder Zeichner eines solchen Bildes greift weder auf die kompakte Wahrnehmung eines Augenblicks noch auf eine Idee zurück. Er folgt einer Imagination, die wie ein Traum aus Wiederholungen des Alltags besteht, die ein Schweigen oder einen blinden Fleck in sich tragen. Das Symbol, ein Zeichen des Unzugänglichen im Zugänglichen, ist klar und überraschend zugleich. Neben gleichermaßen klaren wie rätselhaften von Max Stock gezeichneten Gesichtern finden wir ein Wesen mit einer Gräte als Schweif, den Vogel auf einem Blatt, eine Blume oder Frucht als Haar, einen Raum unbekannter Gebilde. Auch das Karikaturhafte ist wieder präsent, behaftet mit dem Element des Kindlichen, das eines der Menschenfreundlichkeit ist, in dem sich Empfindsamkeit und der Ursprung dieses Empfindens in der Kindheit ausdrücken, dem Ankommen des Menschen in der Welt und seiner Subjektwerdung.

Die ersten Bilder dieser Art symbolischer Reduktion von Max Stock, in der Form antiker ägyptischer Köpfe, tauchten 1997 in der retrospektiven Ausstellung im Haus am Lützowplatz auf. Dunkle, glatte Grundierungen, sparsame Flächen, einfach gezogene Linien. Dann wird die Linie vom Künstler immer mehr zur Dominanz geführt und kehrt zu ihrer archaischen, abstrahierenden Funktion zurück, nämlich der, die Fläche zu teilen und unsere Wahrnehmung mit einer Unterscheidung in Gang zu setzen. Die Linie, die, wenn man so will, das Markenzeichen Max Stocks geworden ist, trennt aber nicht nur, sie umrundet und verschließt auch. In der Geschlossenheit der Linie erscheint der beruhigte symbolische Raum. Wir schauen in ein solches geschlossenes Gesicht und erfassen die Schweigsamkeit und Stille der Existenz, wie sie sich einst im Angesicht von Acker und Horizont dem Künstler als Bild offenbarten.

 

© Doris Paschiller



Max Stock ist in der Galerie gräfe art.concept vertreten.





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