Psychiatrie im November

Psychiatrie im November

 

Zwischen zwei Dächern hatte der Himmel eine wolkige rosa Färbung. Davor wandte die Frau sich um, blieb für einen Moment stehen, um einen Moment lang auszuruhen. Dann setzte sie ihren Weg fort. Die Tasche hing schwer von ihrer Schulter herab. Vor ein paar Stunden hatte sie aus dem Fenster der S-Bahn etwas gesehen, wovon sie nicht entscheiden konnte, was es gewesen war. Die Polizei war die Geleise entlanggegangen, suchend, und auf den Geleisen hatte scheinbar eine Gestalt gelegen.

Sie erinnerte sich an eine Gewohnheit ihrer Kindheit, bei der sie, wenn es draußen regnete und sie ihr Zimmer nicht verlassen konnte, am Fenster stand, vielleicht auf dem Fensterbrett kniete und ihren Mund an die kühle und wie sie jetzt meinte, nach Regen schmeckende Scheibe drückte. Sie dachte auch an die Wüste, von der sie eine bestimmte Vorstellung hatte und daran, dass ein physischer Gang durch die Wüste, sie enttäuschen würde. Schließlich kam sie zu der Überlegung, dass jenes kleine Kind niemals so unmittelbar erstaunt war, wie sie es ihm gerne zuschrieb.

 

Der karge Saal erinnerte ihn an ein altes ungemütliches Bahnhofsrestaurant. Aus bestimmten Gründen verlangte es ihn manchmal nach dieser Ungemütlichkeit. Er wollte spüren, dass diese Armseligkeit sich niemals verlor, niemals ihren Sinn verlor. Er schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Steinfußboden. Er rührte keinen Alkohol an und trank Kaffee.

 

Miranda war einmal ein Mädchen mit pechschwarzen langen Zöpfen gewesen, die Tochter eines Lehrerpaares, von der eines Tages auf dem Schulhof gesagt wurde, dass ihre Eltern geschieden seien. Der Kopf mit den langen schwarzen Zöpfen, die schmalen geraden Schultern, die eine große Mappe trugen, die blankgeputzten Schuhe mit der Doppelschleife an den Füßen waren das Zeichen eines Kindes ohne Mutter, das den Hauch des Alleinseins verbreitete.


Als sie nach Hause kam, stand er schon in der Tür. Wie zum Beweis hielt er ihr einen Zettel hin auf dem er etwas notiert hatte: Den Namen eines Krankenhauses, den Buchstaben einer Station und eine Zimmernummer. Warum, dachte sie, tut er so, als hätte er einen Beweis in der Hand. M. war seine Tochter, und sie befand sich in einem Krankenhaus, in einem abgelegenen Bezirk der Stadt. Er versuchte den Eindruck zu erwecken, er sei ein Opfer von irgendwem? In diesem Augenblick war vergessen, dass er M., die er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, vielleicht auch nicht mehr hatte sehen wollen.

 

An ihrem Bett in einem flachen Gebäude jener Klinik im Grünen nahm Sylvia die Blicke Mirandas in sich auf. Ihre Blicke trafen sich in den Blättern des Kastanienbaumes vor dem Fenster, dessen Äste bis zum zweiten Stock ragten, wie in einer gemeinsamen Erinnerung, und sie trafen sich im Erkennen der Not, in der Miranda war. Die Blätter des Kastanienbaumes hatten einen gelben Rand, die Blätter wurden langsam gelb. Miranda war eine Verlassene, eine Trinkerin. Sylvia hatte Tagträume gehabt, in denen sie Miranda begegnete, der abwesenden jungen umherirrenden Frau. Sie hatte sich gewünscht, Miranda zu retten. Zuerst hatte er von ihr in einem vorgespielten Stolz gesprochen, wie sie jetzt wusste, dass er eine Tochter besaß, von einer Frau, die ihn eines Tages verlassen hatte, und von der er niemals mehr erzählte, als das. Dann hatte er einmal plötzlich von seiner Angst gesprochen, von seinem Gespür, er könnte Mirandas Tod erleben. Und ein anderes Mal, als Miranda vor ihrer Tür stand in einer entsetzlichen Verfassung, sah sie, dass er Prinzipien hatte.

 

„Ich bin die Freundin deines Vaters. Wir haben uns einmal bei ihm gesehen, aber daran kannst du dich vielleicht nicht erinnern. Es ging dir damals nicht gut.“ Miranda hatte sich nicht erinnern können, was für sie aber ohne Bedeutung war. Sie zeigte Silvia Fotos auf denen sie zu sehen war bei einer Tätigkeit in einer Gärtnerei. Sie sagte: „Die lange weiße Zeit des Krankenzimmers“. Sie hatte einen zahnlosen Mund.

 

An manchen Tagen sah es so aus, als würde das Leben Mirandas neu beginnen zwischen den weißen Wänden und in den weißen Laken. Sie ging in diesem Zimmer umher wie eine Gastgeberin. Es gab keine Fragen, es gab einen Boden unter ihren Füßen. Nur wenn sie auf den schmalen Balkon ging und rauchte, war sie voller Scham und Angst. Man durfte sie nicht anschauen, wenn ihre Augen die Farbe der Angst angenommen hatten und ihr Körper zu zittern begann, den Schatten einer unsichtbaren Wunde warf. Aber die Folge ihres Schicksals schien ein bestimmter Wille zu sein. Man bemerkte an ihr eine kluge Gerichtetheit, erkannte ein vernünftiges Kind, aber nicht, dass der Wille farblos war, traumlos und ohne Sehnsucht. Man sagte, man brauche sich um sie nicht zu sorgen. Sie sei eine gute Schülerin, wenn es ihr auch scheinbar niemals gelänge, unter den Besten zu sein. Sie wohnten in einer großen Wohnung und Miranda hatte ein großes Zimmer. Darin standen ein Bett, eine Kommode, ein Tisch und ein Stuhl. Alles war weggeräumt. Als der Vater sie fragte, was sie davon hielte, wenn er sich eine Frau suchen würde, ermutigte sie ihn dazu und erzählte lachend einer Freundin, die sie manchmal mit nach Hause brachte, wie verlegen er mit seiner Frage gewesen wäre. Aber auf einem seiner unzähligen Spaziergänge durch die leeren Straßen der Stadt wusste er auf ein Mal, dass er niemals mehr eine Ehe wollte. Niemand durfte mehr Anforderungen nach Mehr an ihn stellen, niemals mehr nach dem Anderen und nach einem anderen Wesen. Er musste die Hand selbst über sein Wesen legen. Er musste seinen Schmerz schützen. Und er durfte nicht angeschaut werden.

 

In stiller Übereinkunft fuhren sie niemals gemeinsam ins Krankenhaus. Sylvia fuhr mit dem Bus zu Miranda. Sie stieg an einem Park aus, den sie vom Bus aus gesehen hatte, um für Miranda bunte Blätter von den Sträuchern zu schneiden. Und sie wollte die Blätter als Lebenszeichen abschneiden. Aber je mehr Leben sie zu pflücken versuchte, desto weiter wurde der Horizont des Todes. Sie hatte ein Messer in der Tasche und wartete auf den Augenblick, in dem niemand in ihrer Nähe war, der sie hätte beobachten können.

 

„Du hattest aber einmal vor“, sagte Sylvia zu ihr, die auf dem Rücken lag und an die Decke starrte, „in Frankreich zu leben“. „So etwas klappt nicht“, sagte Miranda bestimmt. Das schwarze Haar klebte sehr fest an ihrem Kopf. Sie hatte eine kleine Stirn. Sie hatte ihr Gesicht der Besucherin nur ein wenig zugewandt.

 

Sie setzte sich auf und sagte: „Ich habe einmal eine Flasche Rotwein getrunken. Als ich aufwachte lag ich in einem Gebüsch. Ich bin gefallen. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht, wie das möglich war.“ Miranda wollte, dass Sylvia ihre forschenden und bohrenden Fragen unterließ. „Du bist wohl ohnmächtig geworden.“ Miranda hatte diesen Ausdruck der Betrunkenheit im Gesicht, höhnische zusammengekniffene Lippen. Dann sah sie zur Decke. Nach einer Weile richtete sie sich im Bett auf. „Aber du hattest einen Freund.“ Sylvia bemühte sich sehr um einen freundlichen hellen Klang ihrer Fragen. „Er ist gehörlos“, sagte Miranda traurig.“ „Wo hast du ihn kennengelernt?“ „Bei einer Diskussion vor einer Wahl, mit einem Gebärdendolmetscher.“ „Was macht er?“ „Ich weiß nicht. Er sprach nicht. Mehrere dort konnten nicht sprechen. Er hat so wunderschön gelächelt. Ich bin mit ihm in seine Wohnung gegangen. Ich hatte nichts. Ich dachte, dass ich dableiben könnte. Ich habe zuerst seine Küche aufgeräumt. Ich habe seine Zeichensprache nicht gelernt. Das wichtigste war die Liebe.“ Miranda war also zu Versammlungen gegangen und war in einer Liebe versunken. Später hatte sie einmal weinend vor der Tür ihres Vaters gestanden. Sie war eine große Frau, an dem Tag war sie klein und zusammengekrümmt. Sie sah nicht mehr jung aus. Sie trug einen blauen langen Glockenrock und ein rotes Hemd dazu, Sachen aus einer Kleiderkammer. Miranda besaß keine eigene Kleidung mehr. Sie besaß nichts mehr. Er ging mit ihr in sein Arbeitszimmer. Er merkte zu spät, dass er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte und auf sie einredete. Sie wollte auf jeden Fall wieder gehen. Sie bat ihn, ihr etwas Geld zu leihen. Er gab ihr das Geld.

 

Die braunen Astern in seinen Händen, die sich von seinem dunkelblauen Hemd abhoben, störten ihn. Nachdem er eine Stunde bei Miranda gesessen und mit ihr gesprochen hatte, zog er seine Schulter hastig nach vorne, als er aufstehen und gehen wollte. Diese Bewegung war der Gegensatz zu seinen sanften Belehrungen. Noch einmal und immer wieder von vorne beginnen. Er war Lehrer. Er hatte sich in seinem Leben diese hoffnungsvolle Mühe gegeben. Auf alle war er zugekommen mit dieser Mühe, wie er glaubte, die er zelebrierte und in der er für ein paar Stunden ganz aufzugehen schien.

 

Sylvia gab ihm insgeheim alle Schuld. Sie dachte, dass er ein Verhängnis, herkommend von einem tödlichen Ort, in sich schützte und weitergab. Er hatte sie einmal zu diesem Ort geführt einer kleinen Straße. An der Straße standen zweistöckige Häuser, seine Mutter wohnte dort, und es gab einen Baum, unter dem er als Kind im Sand gespielt hatte. Die Straße hatte sich für den Mann niemals verändert. Es war belanglos, ob die Bäume gewachsen waren, die Geschäfte sich gefüllt und die Autos am Straßenrand andere Formen hatten oder die Menschen älter geworden waren. Er wurde von der Enge seiner Kindheit erfasst. Er sah seinen Vater die schmale Küche durchschreiten und sich selbst und seine Mutter an einem Rand, auf dem er sich kaum halten konnte. Die Mutter brachte dem Vater einen Teller, sobald er sich hingesetzt hatte. Sie stand, während er schon angefangen hatte zu essen. Diese Gesten einer Frau waren später in seinem Leben nicht wiederaufgetaucht, und auch das schmerzte ihn. Er sah das Altern seiner Mutter, das er nicht vertragen konnte. Wenn er sie später besuchte, verließ er sie fluchtartig. Er lief an den nahen Stadtrand und aus der Stadt heraus einen Sandweg entlang durch den Kiefernwald zu einer Brücke, an der er sich niederließ. Er hatte sich einmal, als er noch sehr jung war, in einer Nacht niedergelassen vor einer Bäckerei, in das Licht und die Wärme, die aus der Backstube strömten. Der Bäcker war herausgekommen und hatte ihn gefragt, ob er sich in der Backstube aufwärmen wolle, aber er war zu benommen und war dann froh, dass der Mann ihn in Ruhe ließ und wieder in die Backstube zurückging. Er saß da, scheinbar, um auf seinen Vater zu warten, der nicht nach Hause gekommen war. Er saß an der Kreuzung und konnte in der Ferne das Mietshaus sehen, in dem er mit seinen Eltern wohnte. Er konnte das Licht sehen, das seine Mutter wahrscheinlich in der Küche angelassen hatte, oder bei dem sie noch saß. Er fühlte sich von allen verlassen. Sie hatte angeblich Angst davor, dass sich sein Vater etwas antun könnte, sich aufhängen oder sich sonst wie umbringen könnte. In Wirklichkeit aber wusste sie, dass etwas anderes geschehen war. Der junge Mann saß gelähmt und wunderte sich, dass er hierher geraten und an dieser Stelle geblieben war. Vielleicht hatte er zu Anfang gedacht, er werde tatsächlich auf seinen Vater warten und werde dem Wunsch seiner Mutter nachkommen, ihn zurückzubringen. Aber er konnte ja nichts tun, als zu warten, bis der Auftrag vorüber war, bis er nicht mehr existierte. Das hielt ihn fest in der feuchtwarmen Dunkelheit. Er brütete vor sich hin. Die Straße war menschenleer. Auch Autos fuhren nicht mehr. Als eine Zeit vergangen war, fühlte er sich aufstehen und über die Kreuzung gehen, aber er fand keinen Willen dazu in sich selbst. Ihm war als würde er die Wirklichkeit verlassen, als täte sich etwas anderes vor ihm auf. Er sah in der Ferne einen silbernen Streifen, der ihn anzog, in dem er sich auflösen würde, ein überaus helles, sich langsam ausbreitendes Meer. Neben ihm ragten die würfelförmigen Häuser in die Nacht empor, glatte Fassaden mit den schwarzen Löchern der Fenster und niedrigen Türen. Er sah den Mond am Himmel und auf dem Boden das matte Licht der Laternen. Er ging in eine Seitenstraße. Die hohen Büsche in den Vorgärten verströmten einen würzigen Geruch. Er war auf einmal sehr müde geworden. Er musste schlafen. Er musste morgen den ersten Zug nehmen, um in die Stadt zu fahren, in der er studierte. Er atmete tief und begann zu laufen, als müsste er gleich jetzt diesen leblosen Ort verlassen. Im Schlafzimmer fand er seine Mutter aufrecht und wie erschrocken im Bett sitzen. „Er hat dich verlassen“, sagte er. „Er ist weggegangen. Er ist zu seiner Freundin gegangen.“ „Hast du ihn denn gesehen“, fragte sie schrill. „Er wird sich vielleicht scheiden lassen, darüber denkst du doch nach.“ Aber sie wollte nicht aufhören, ihn zu fragen, ob er ihn, ihren Mann, seinen Vater gefunden hätte. Er bat sie, sich zu beruhigen und legte seine Hände auf ihre beiden Schultern. Sie weinte.

Am frühen morgen fuhr er in die Stadt. Er würde Lehrer werden, weil auch sein Vater nach dem Krieg Lehrer geworden war und er das Gefühl hatte, dass man als Lehrer im Leben gut zurechtkommen würde.

 

Kurz vor dem Ende seines und ihres Studiums hatte er seine Freundin geheiratet, die schwanger war, und sie gingen dann, als Miranda geboren war, nach Berlin, in die Stadt seiner Frau. Er hatte alles geregelt. Er hatte alle Träume mit einer spröden Endgültigkeit aufgegeben, alle Sehnsucht lächelnd zurückgedrängt. Er hatte eine Ehe und er hatte eine Tochter. Er begann ein vollkommen neues Leben. Er hatte das Glück gehabt, in diese Ordnung zu geraten. Er hatte einen Blick aus einem großen Fenster auf einen Park. Er saß in diesem Zimmer und er bereitete sich am Abend auf den Unterricht vor. Am Morgen ging er zu Fuß in die Schule. Das war das erste Ärgernis, das er erregte. Aber es blieb das einzige. Er wollte fremd sein und anders, damit sie nicht alles bekamen. Er war auf eine bestimmte Weise frei. Er war in einer großen Stadt, in einer Straße mit weißen Fassaden und Fenstern mit Rundbögen. Manchmal spürte er den behäbigen Gang seines Vaters in sich. Manchmal spürte er die Einschnürung überaus fest. Seine Frau unterrichtete an einer anderen Schule als er, auch sie schien genau wie er sich einzuschränken an einem geraden Weg, wahrscheinlich sogar in noch größerer Härte als er. Als sie ging war es, weil sie nicht anders konnte, als hart zu sein. Und sie hatte sich später in ebensolcher Härte von ihrer betrunkenen Tochter Miranda getrennt. Sie waren all das ganz einfach geworden, nicht anders, als hätten sie sich entschieden für ein bestimmtes Kleidungsstück, das sie kaufen wollten. Es hatte keines großen Zwangs bedurft, nur einer frühen Schwangerschaft und einer folgenden leichten Angst, aufzufallen.

 

 Ihr Weggehen traf ihn und blieb ihm. Er dachte zuerst, Miranda müsse zerbrechen, wahnsinnig werden. Das aber geschah später und langsam und er wollte es nicht zur Kenntnis nehmen. Mirandas Mutter verließ ihn, wegen einer Affäre mit einer anderen Frau, die sie beide kannten, die er gehabt hatte. Sie richtete eine große Distanz zu ihm ein. Sie folgte einem ihrer Träume, am Meer zu wohnen. Miranda wollte nicht mit ihr gehen. Sie hatte keine Angst mit ihm allein zu leben und er wunderte sich, dass sie niemals in die Versuchung geriet, bei ihrer Mutter an der See zu bleiben, wenn sie diese in den Ferien besucht hatte. Er konnte sich nicht erklären, warum sie auf diese Weise zu ihm hielt. In ihrem Lachen war eine gewisse Überlegenheit, die später eine betrunkene, aggressive Überlegenheit wurde. Er wusste eines Tages, dass es so war. Er wusste es als etwas wovor er Angst, das er bereits länger beobachtet hatte. Er hatte sich damit beruhigt, dass alle jungen Leute, mit denen Miranda zusammen war, viel tranken, überhaupt tranken alle sehr viel. Aber Miranda tat es auf eine besondere Weise. Sie tat es mit einem höhnischen Zug um den Mund. Sie trank, als hätte sie dabei ein Messer in der Hand. Sie trank, um sich zu töten. Er hatte es sehr lange nicht angesprochen, aber als er dann mit einem Mal versuchte, Miranda vom Alkohol abzubringen, in seiner sanften, fast unterwürfigen Art, beteuerte sie ebenso sanft, dass er sie nicht verstehen würde, und er sah, wie ernst sie das meinte. Und eines Tages war sie verschwunden. Und er sagte sich, dass alle Menschen ihre Elternhäuser verließen, weil sie dort nicht verstanden wurden, weil ihnen dort, absichtslos, die größten Schmerzen zugefügt wurden, und weil sie merkten, dass ihr Verhängnis hier ihren Ausgang nahm.

 

Das bunte Laub lag zu Haufen zusammengekehrt auf dem Gehsteig. Manchmal sah es so aus, als hätte ein Baum an einem Tag alle Blätter verloren. Sylvia versenkte ihren Blick in kahle Äste, wo er gestern noch auf einem gelben Blatt hängengeblieben war. Die Dunkelheit brach früher herein, und bis zwanzig Uhr, wenn sie gemeinsam beim Abendbrot saßen, ertönte der Lärm der Baustelle, die in ihrer Straße entstanden war. Der erste Bauarbeiter saß bereits kurz nach sechs Uhr früh in einem der Bürocontainer an einem Schreibtisch unter einer Schreibtischlampe.

 

Er hatte die Besuche bei Miranda zu seiner Aufgabe gemacht. Sein Schritt, wenn er die Klinik im Grünen betrat, war gewissenhaft, er schaute das Elend gewissenhaft an, wie ein Arzt, der eine ihm vertraute Krankheit diagnostiziert. In Mirandas Bett lag ein leerer Joghurtbecher. Die Sonne blieb für eine Weile vor ihrem Fenster. Es war ein schönes Fenster, das eine ferne Landschaft rahmte. „Man kann es nicht öffnen“, sagte Miranda, „nur oben, die schmale Klappe.“ Eine Frau lag in dem zweitem Bett vor dem ein Rollstuhl stand. Sie rührte sich nicht. „Sie schreit in der Nacht", sagte Miranda. Sie sah ihn aus einem traurigen, dünnen Gesicht böse an. „Es werden hier Leute geschlagen“. Er konnte sich eine der Schwestern schlagend oder stoßend vorstellen, wollte es dann aber doch nicht glauben. Er hatte nur eine geringe Vorstellung davon, was auf dieser Station vorfallen konnte. Er bekam das Gefühl einer besonderen Erfahrung, eines Einblickes. Er erlebte, wie Miranda einer Frau, mit der sie zu Mittag an einem Tisch sitzen musste und die nicht aufhörte zu lachen, sagte: „Halt die Schnauze.“ Sie war unerbittlich, wie wahrscheinlich alle hier untereinander unerbittlich waren. Er erkannte die Schönheit ihres Gesichts, wie aus einzelnen Scherben zusammengesetzt. Der eingefallene Mund verlor seinen Schrecken. Manchmal gab der Zorn die Schönheit her.

 

Sie saßen auf ihrem Bett und aßen Torte, die Miranda sich gewünscht hatte. Die andere sollte auch etwas abbekommen, sobald sie erwachte, oder sich rührte, was sie aber nicht tat. Es sah aus, als schliefe sie einen langen tiefen Schlaf, gegen das Außen, das sie umgab. In ihren Decken war kaum ein Körper zu erkennen, man sah nur ein Stück ihres aschblonden glatten Haares. Sie hatte ein Bein verloren, sie konnte sich geschickt und schnell bewegen. Wenn sie nicht schlief war sie in großer Eile hier, wo es für sie nichts zu tun gab. Sylvia dachte, dass sie beide einander hassten. Sie dachte, Miranda sei stark. Sie durchschaute ihre Umgebung in bestimmten kurzen Augenblicken, als würde sie zur Ordnung zurückkehren, die sie verbrannt hatte. Sie sagte: „Ich habe ein durstiges Geheimnis.“ Sie sagte Sylvia, dass sie aufpassen möge auf ihren Vater, der sich nicht überarbeiten dürfe. Sylvia dachte darum, sie wüsste, dass Miranda nicht zurückkommen würde in die Wohnung ihres Vaters, in der sie bleiben und Geld haben könnte, und in der sie von ihr einen Anfang erwarten würden.

 

Er kam zu früh zum Krankenhaus. Er lief, weil er noch nicht hineingehen wollte in den Wald, der sich neben der Klinik befand. Es war November geworden, der Monat, der die Kälte mit einem grauen Dunst überzog. Eine Frau mit einem Hund kam ihm entgegen, schaute ihn aber nicht an. Er kam sich vor, als liefe er auf einem verbotenen Weg. Er wollte diesen hinauf und würde dann einen anderen zurückgehen. Gebückt stand er in einem Tannendickicht. Er ging denselben Weg, den er gekommen war, zurück zum Krankenhaus. Er grüßte den Pförtner. Er hatte immer die Pförtner mit besonderer Freundlichkeit begrüßt, die hier saßen und fernsahen und ihm neutral erschienen und voller Mitgefühl für die Eintretenden. Er war immer schnell und mit klopfendem Herzen die breite Straße zu jenem Flachbau gegangen mit dem blauen Streifen unter den Fenstern. Er bemerkte die zu früh aufgehängten Festtagslämpchen,

 

Miranda sagte, sie werde nun die Gebärdensprache erlernen, für ihren Freund, der sie sicher erwarte. Sie sagte es in jenen Wänden der Anstalt, in denen die Worte vor die Füße Ungläubiger stürzten. Sie hatte für eine unendlich lange Weile dieses Zittern in der Stimme, die unendliche Anstrengung, ihrem Vater etwas zu sagen, seinen Zweifel, der mit ihrem Zweifel verwachsen war, zu schüren. „Aber hat er dich denn hier besucht?“, fragte er sie. „Er hat nicht gewusst, dass ich hier bin. Er wird sich Sorgen um mich gemacht haben. Ich habe ihm nicht Bescheid gegeben.“ „Aber dann hätte er doch nach dir forschen müssen.“

 

Er musste ihr etwas kaufen, im Einkaufscenter, in dem es warm und laut war, Menschen sich drängten, um zu den Dingen zu gelangen, die Dinge zu betasten, mit ihnen zu sprechen, sie anzuschauen, anzuprobieren und zu kaufen. Er bemerkte eine neue Gestaltung der mittleren Passage. Sie war in eine asiatische Gasse verwandelt über der ein roter Drachen schwebte. Auf einer Teebühne saßen zwei ältere Frauen, die nicht bedacht hatten, dass Zuschauer sie betrachteten, während sie bedrückt an der Teezeremonie teilhatten, die hier vorgeführt wurde. Er verhöhnte sie schweigend. Er ging zielstrebig in das Geschäft, von dem er vermutete, dass es dort Kleidung für Miranda gab. Er gehörte dort nicht hin. Aber trotzdem gefiel es ihm. Man konnte sich zwischen all den Regalen und Waren verstecken, sich vor sich selbst verstecken, sich bewegen, als wäre man jemand anderer. Er nahm eine Jacke vom Bügel. Sie hatte einen eigenartigen Kellergeruch, sah, wie er fand aber gut aus und deshalb kaufte er sie, ebenso eine Hose und einen Pullover, die er aus naheliegenden Ständern gezerrt hatte, mit denen er vor den Spiegel getreten war, als wolle er sie anprobieren. Er bat die Verkäuferin, die Preisschilder zu entfernen. Vor dem Geschäft in der Passage befühlte er wieder die Jacke. Sie war schwarz und aus Latex und gefüttert mit einem Stoff. Früher hätte er niemals diese Jacke gekauft.

 

Der Himmel war nah und weiß. Im Laufen spürte Sylvia den kräftigen Schnee unter den Schuhsohlen. Die Autos mussten sehr langsam, langsamer als im Schritttempo fahren. Wie eine alte Verwandte ging Miranda neben ihr her. Es waren an ihr zerbrechliche Zeichen von Benommenheit und Resignation zu erkennen hinter denen etwas beharrlich aufflammte. Sie liefen über die Brücke, die lang war und leer, und Sylvia wollte den Fluss bewundern, der schwimmendes Eis trug, Federn von Eis, strömendes Wasser, das in der Bewegung gefroren war. Miranda erkannte zunächst nicht dieses seltsame Eis im Wasser. Dann starrte sie eine Weile hinab ohne Bewunderung. Sie hatte nicht vor, dergleichen zu besingen, denn das wäre nichts als ein Vorwand.

 

Silvia empfand, dass sie einander fremd bleiben würden. Der Schnee fiel in dicken Flocken, so dass es ihr plötzlich zum Lachen war und sie tief atmete, um ihre Lungen mit der feuchten Schneeluft zu füllen. Aber sie sollte das nicht tun, denn es belästigte Miranda, die ihrerseits gleichgültig mit der linken Hand den Schnee vom Brückengeländer fegte und lässig in den Fluss spuckte. Einer dieser vielen Fremden, eine Frau, die fror und eine schwarze Tasche an ihren Körper presste, kam ihnen entgegen und passierte sie mit betonter Gleichgültigkeit.



© Doris Paschiller, 1987



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